
Deutscher Fußball-Meister Bayer Leverkusen: Für den Klub ist es eine Premiere, für Xabi Alonso schon der 19. große Titel und doch so ein besonderer. Der erste als Trainer. Die frühzeitige deutsche Meisterschaft krönt einen, der die Fußball-Welt um den Finger wickelt. Und das ist erst der Anfang.
Die erste Bierdusche gibt es von Josip Stanisic schon in der Kabine. Der Verteidiger ist es, der sich als Erstes an Trainer Xabi Alonso heranwagt und ihn überschüttet. Später auf der Pressekonferenz folgt die zweite - von der gesamten Mannschaft, die schon fast obligatorisch bei Fußball-Titeln das Podium stürmt. Als Deutscher Meister getauft. Der erste Lohn für eine sagenhafte Saison von Bayer Leverkusen, in der es keine Niederlage gibt.
In den Feier-Plänen Alonsos kommt weiteres Bier vor, wenn auch getrunken und nicht als Dusche: "Viel Bier, deutsches Bier, morgen ist frei. Im Fußball ist manchmal alles schnell, aber heute müssen wir stoppen und genießen." "King Xavi", so heißt es huldigend auf einem Transparent mit seinem Konterfei von Fans im Stadion beim Spiel gegen Werder Bremen (5:0) kann genießen. Beim Abpfiff von Schiedsrichter Harm Osmars, der im Platzsturm nach dem Hattrick von Florian Wirtz untergeht, ist er noch relativ ruhig. Dann steht er jubelnd, den Blick auf die Tribüne gerichtet, vor den Massen an Fotografen und knipst auch selbst viele Erinnerungsfotos.
Alle vorangegangenen Mahnungen sind über Bord geschmissen. Zwei weitere Titel sind noch zu gewinnen, das nächste wichtige Spiel steht bereits am Donnerstag an, wenn Leverkusen zum Viertelfinal-Rückspiel der Europa League zu West Ham United (21 Uhr/RTL und im ntv.de-Liveticker) reist. Daher wolle man nicht so groß feiern, hieß es von Alonso und den Klub-Verantwortlichen vorab. Das klang am Sonntagabend dann ganz schnell ganz anders. "Ich glaube, es gibt kein Ende heute. Wir haben morgen frei, es kann jeder entscheiden, wie lange er machen will heute", sagte Wirtz. Da, wo der Dribbelkünstler ist, ist der Erfolg. Mit gerade einmal 20 Jahren reißt er die Fußballwelt aus den Angeln.
Erster Titel als Trainer
Ebenso ist die Lage um Xabi Alonso. Da, wo der Trainer ist, ist der Erfolg. Der 42-Jährige hinterlässt Spuren. Nach gerade einmal sechs Jahren als Trainer knüpft er an seine herausragenden Erfolge als Spieler an. Als er seine Karriere 2017 beim FC Bayern beendet ist er Weltmeister, zweimal Europameister, zweimal Champions-League-Sieger, dreimal Deutscher Meister und gewinnt zehn weitere Titel, ist eine Ikone bei Real Madrid und dem FC Liverpool. Jetzt kann er die Meisterschale auch als Coach in die Höhe strecken. Nach dem 29. Spieltag. Beendet ist die elf Saisons anhaltende Meisterschafts-Serie des FC Bayern. Und es gibt so gut wie niemanden, der Alonso das nicht gönnt.
Dabei traute Alonso sich selbst lange nicht so richtig über den Weg, Fußball als einziges Standbein empfand er als ganz schön gewagt. Eine Profi-Karriere habe er "ehrlicherweise lange nicht für möglich gehalten, darum war es auch nie mein einziges Ziel im Leben", erzählte er mal im Vereinsmagazin "Werkself": "Ich habe studiert und nebenbei gespielt und mal geschaut, wie weit ich es im Fußball schaffe." Bis er im Alter von 22 Jahren nach Liverpool ging, hat er studiert. "Es hat nur ein Kurs gefehlt, um den Abschluss in Wirtschaftswissenschaften zu machen", sagte er: "Ich hätte ohne den Wechsel wohl den gleichen Weg wie meine Freunde eingeschlagen: das Studium abschließen, mir einen Job in der Wirtschaft suchen. Das war der klare Plan für den Fall, dass ich keinen Erfolg im Fußball gehabt hätte, und das war auch völlig okay für mich."
Kein Lautsprecher, wie andere Trainerkollegen
Längst hat dieser Spanier aus dem stolzen Baskenland die Herzen der Fußballwelt erobert. José Mourinho ist Kult aufgrund seiner berüchtigten Exzentrik, aber genauso geliebt wie angefeindet. Jürgen Klopp ist Kult aufgrund seiner vereinnahmenden Persönlichkeit, für einige ist er aber zu drüber. Pep Guardiola ist Kult aufgrund seiner fußballverrückten Nerdigkeit. Xabi Alonso ist gegen diese Kollegen erst einmal unauffällig. Er legt sich nicht mit Schiedsrichtern an, er rennt nicht schreiend am Spielfeldrand auf und ab, er hält keine langen, kaum verständliche Monologe über klitzekleine Szenen eines Spiels.
Xabi Alonso bleibt auch in der Nachspielzeit ruhig, wenn sein Team den Siegtreffer noch nicht geschossen hat. Er freut sich über den Siegtreffer, rennt aber nicht wie von der Tarantel gestochen los. Er verteilt nach Abpfiff Küsschen ins Publikum, er holt sein gesamtes Trainerteam mit an den Zaun, wenn die Fans ihn fordern. Wenn es, wie jüngst vor diesem Spieltag keinen Dolmetscher bei der Pressekonferenz gibt, spricht er mit den anwesenden spanischen Kollegen erst Spanisch und übersetzt sich dann selbst ins Deutsche. In Interviews ist er ein Gentleman, ein Schwiegermutter-Liebling, stets freundlich, zurückhaltend, höflich und gut gekleidet. Schon in der Hinrunde ist er der bei den Fans beliebteste Trainer der Fußball-Bundesliga.
Gladbach noch abgesagt
Granit Xhaka, der auch wegen Alonso nach Leverkusen gewechselt ist, sagte der "Marca" schon vor der Saison: "Es ist eine Ehre, mit Xabi verglichen zu werden." Der 42-Jährige ist ein Glücksfall für Bayer Leverkusen. Den Verein, der "Vizekusen" ist, mehrfach nah dran, dann aber doch immer am Erfolg vorbeigeschlittert. Von vielen Fußballfans in Deutschland abgetan als bieder und grau, zwar gut, aber nicht so irre relevant für die Liga. Als Alonso im Oktober 2022 verpflichtet wird, steht die Werkself auf Platz 17 der Tabelle - Vorletzter, auf einem Abstiegsplatz. Allein dass Alonso, dieser einstige Fußball-Star, der so elegant und gleichzeitig so knallhart das Mittelfeld beherrschen konnte, ausgerechnet nach Leverkusen geht, sorgt für Aufmerksamkeit. Schließlich hatte er Borussia Mönchengladbach ein Jahr zuvor noch abgesagt, weil er sich nicht reif fühlte.
Doch nach einem Jahr als Jugendtrainer bei Real Madrid und drei Jahren als Coach der zweiten Mannschaft seines einstigen Jugendvereins Real Sociedad San Sebastian, mit der er in die 2. Liga auf- und wieder abstieg, wagt er den Schritt in die Bundesliga, die er aus seinen drei Jahren in München kennt. Rein in die Aufmerksamkeit der großen Fußballbühne.
Für Alonso ist der Schritt in die Bundesliga ein logischer Schritt: Er sieht bei sich selbst "typisch deutsche Eigenschaften", schon bevor er 2014 nach München wechselt. Die analytische Herangehensweise an den Job, die Organisation, das liegt dem Basken. "Nun, in der zweiten Etappe meiner Karriere, ist meine Verantwortung noch größer geworden und diese Dinge haben noch einmal an Bedeutung gewonnen", sagte er. Deshalb habe er sich "immer daran erinnert, dass diese Liga der richtige Ort für mich ist, um nach der Zeit in San Sebastián den nächsten Schritt in meiner Trainerlaufbahn zu gehen."
"Er hat Leverkusen verändert"
Sein erstes Spiel ist ein Vorgeschmack auf das, was folgen soll: 4:0 fegt Leverkusen den 16. FC Schalke 04 vom Platz. Das Team fängt sich und beendet die Bundesliga-Saison auf Platz sechs - Qualifikation für die Europa League inklusive. Am 34. Spieltag gibt es mit der 0:3-Pleite beim VfL Bochum zugleich die letzte Niederlage. Seitdem hat Bayer Leverkusen das Verlieren einfach gestrichen. Sagenhafte 43 Spiele hält das jetzt schon an. Reihenweise Klubs verzweifeln, früher im Spiel - oder wie längst zum bemerkenswerten Clou geworden - später. Ganz spät, teils erst in der Nachspielzeit, setzt Leverkusen die Konkurrenz K.o. Die Konzentration der Spieler bleibt stets hoch, Alonso lobt ihre Mentalität und legt Wert auf den absoluten Willen. "Er hat Leverkusen verändert. Alle Spieler spüren das", sagte Jeremie Frimpong kürzlich.
Der Aura des Xabi Alonso kann man sich nicht entziehen. Die Fans sehen das so wie die Spieler. Das Stadion ist immer voll - hat aber auch nur gut 30.000 Plätze -, Fans müssen sich jetzt beim Ticketkauf ranhalten. Der Verein erlebt einen Boom an Neu-Mitgliedern, wohl auch, weil diese bevorzugt an Tickets kommen. Die, die schon lange das Bayerkreuz im Herzen tragen, sind das gar nicht gewohnt, doch das Erfolgsteam und Xabi Alonso sind den Fußballfans eine Reise nach Leverkusen wert.
Und so wie die Fans und die Spieler reagieren auch Geschäftsführer und Klub-Verantwortliche auf den 42-Jährigen. In Windeseile ist er zu einem der begehrtesten Trainer der Welt gereift. Er kann sich seinen Arbeitgeber aussuchen, die Vereine stehen Schlange. Sein Ex-Klub FC Bayern will ihn als Nachfolger für Thomas Tuchel, er hat dem Klub schließlich den Unbesiegbar-Nimbus genommen. Sein Ex-Klub FC Liverpool will ihn, schließlich hört Klopp auf. Doch Alonso entscheidet: In Leverkusen ist er noch nicht fertig.
Es ist eine Entscheidung, der größter Respekt gebührt. Alonso hat erkannt, dass das Größere nicht immer das Bessere ist. Er ist klug genug zu wissen, dass der FC Bayern ein Haifischbecken ist. Und dass wer auch immer die Nachfolge von Fan-und-Spieler-Gott Klopp antritt es unfassbar schwer haben wird. Er weiß zudem, dass die Klubs bestimmt auch in ein paar Jahren noch an ihm baggern werden. Und womöglich kommt auch noch sein dritter Ex-Klub hinzu, die Gerüchte halten sich hartnäckig, dass er in ein oder zwei Jahren die Nachfolge von Carlo Ancelotti bei Real Madrid antritt.
Acht Spieler zu Nationalspielern gemacht
Denn was er kann, das beweist er nicht erst in Leverkusen. Schon in seiner Zeit bei Real Sociedad hat er Spieler besser gemacht, mehrere von ihnen gehören inzwischen dem Profiteam des Klubs an. Was er nun bei Bayer schafft, ist fabelhaft. Florian Wirtz, endlich mal lange Zeit unverletzt, wirbelt durch die gegnerischen Strafräume, dass es eine helle Freude ist - oder eben die pure Verzweiflung für die Verteidiger. Verteidiger Jonathan Tah, seit 2015 im Klub und jetzt so gut wie nie zuvor, sagte kürzlich der "Zeit": "Xabi Alonso hat mich auf ein neues Level gehievt. Jetzt bin ich noch unangenehmer." Tah hat noch nie zuvor so traumwandlerisch sicher und selbstbewusst verteidigt und sich damit auch im DFB-Team unverzichtbar gemacht.
Selbst Xhaka, der mit 31 Jahren und vom Top-Klub FC Arsenal kommend, schon reichlich Erfahrung hat, schwärmt von den neuen Impulsen etwa im Passspiel oder taktischem Verhalten. Verteidiger-Youngster Stanisic war vor der Saison vom FC Bayern verliehen worden, weil er sich im Kader von Tuchel nicht durchsetzen konnte und Spielzeit sammeln sollte, nun spielt er souverän und selbstbewusst. Robert Andrich ist unter Alonso erstmals fürs DFB-Team nominiert worden. Sieben weitere Spieler hat der Coach in dieser Saison zu Nationalspielern gemacht. Darunter auch Grimaldo, obwohl der beim FC Barcelona ausgebildet wurde und mit Benfica Lissabon regelmäßig in der Champions League spielte.
Das Alonso'sche Leverkusen hat immer Lösungen, verliert nie die Kontrolle. Genauso wie der Trainer selbst. Nur eins ist ihm aus dem Ruder gelaufen. Jetzt schon Meister zu werden, das hatte Alonso nicht geplant. "In meinem Plan", gab er kürzlich zu Protokoll, "war das ein bisschen später." Und zwar nicht später in dieser Saison, sondern erst in den kommenden Jahren. Ein Luxusproblem.
Jetzt muss Xabi Alonso schon am 29. Spieltag der Saison 2023/24 feiern. Ein bisschen zumindest. Denn es gibt da noch ein weiteres Luxusproblem: Eine große Feier kann sich der Klub nicht leisten. Schließlich gibt es noch zwei weitere Titel zu gewinnen. Schon am Donnerstag steht das Rückspiel im Viertelfinale der Europa League gegen West Ham an. Die Meisterschale gibt es sowieso erst nach dem letzten Spieltag. Die Partie gegen den FC Augsburg ist passenderweise wieder ein Heimspiel. Das lange Warten von "Vizekusen" auf den ersten Titel der Vereinsgeschichte wird letztlich voll belohnt. Dank Xabi Alonso, dem Bessermacher.
Quelle: ntv.de