
Calmund nannte sich selbst schon scherzhaft den "Bauch der Nation".
Das Magazin für Fußballkultur "11Freunde" feiert in diesen Tagen sein 20. Jubiläum. Zu diesem Anlass ist auch ein opulentes Buch erschienen. Unser Kolumnist erinnert sich an ein mindestens ebenso opulentes Abendessen mit Reiner Calmund bei einer Feier des Magazins.
Es muss im Frühjahr 2010 gewesen sein. Das "11Freunde"-Magazin hatte nach Berlin geladen. Eine große Geburtstagsparty zum zehnjährigen Bestehen sollte zelebriert werden. Der Start war für 19 Uhr im Restaurant "Schneeweiß" in der Simplonstraße 16 angekündigt. Später sollte es gemeinsam noch rüber ins Astra Kulturhaus gehen. Tanz, Getränke und Gesang von Thees Uhlmann waren versprochen worden.
Doch erst einmal hatten wir also im "Schneeweiß" Platz genommen. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von gut gelaunten Menschen, die alle irgendwas mit Fußball zu tun hatten. Funktionäre, Journalisten und ehemalige Spieler. Der Saal war proppevoll. Was zu lustigen Szenen führte. Ich erinnere mich noch genau, wie der spätere DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig mit seiner linken Pobacke auf dem rechten Oberschenkel von Dieter Schatzschneider saß, weil auf der Bank, in die sie sich zusammen mit sechs weiteren Personen gequetscht hatten, einfach nicht genügend Platz war. Das schien die beiden allerdings nicht im Geringsten zu stören. Im Gegenteil.
Die Stimmung war ausgelassen-prächtig. Und auch wir fanden das Bild, das die beiden abgaben, zum Schießen schön, weil kurz zuvor Fotos von Schatzschneider im Netz rumgereicht worden waren, die alle Anwesenden bis dato für absurde Photoshop-Späßchen gehalten hatten. Doch nun sahen wir den Ex-Bundesligaspieler leibhaftig und in seiner vollen Pracht vor uns – und mussten erkennen: die Realität gestaltete sich tatsächlich noch etwas breiter, als es die Bilder eh schon taten.
"Jedes Schälchen, knapp 1.500 Kalorien"
Nach und nach wurden drei umwerfend köstliche Gänge und dazu fantastisch abgestimmte Getränke gereicht. Ein Festessen, wie es zu diesem besonderen Anlass feiner nicht hätte sein können. Und dann stellte das gastronomische Fachpersonal zum Nachtisch auch noch ein Schälchen Crème brûlée vor die versammelte Feiergemeinde. Das Dessert sah sehr lecker aus! Doch da die Zeit mittlerweile weit fortgeschritten war und die Party im Kulturhaus bereits seit einer halben Stunde lief, ließen nicht wenige den Abschluss dieses fabelhaften Menüs unangerührt auf den Tischen stehen. Eine Schande, möchte man meinen, doch es mag auch daran gelegen haben, dass ein namenloser, aber durchaus nicht unattraktiver Jüngling - schon mit der Jacke in der Hand - in die Runde posaunt hatte: "Ich sag mal: Jedes Schälchen, knapp 1.500 Kalorien!"
Wie dem auch sei. Der Saal leerte sich, und da ich mich verquatscht hatte, war ich nun einer der letzten im Raum. Mit mir und meinem Gesprächspartner waren es nur noch fünf Menschen. Einer von den vier anderen war Reiner Calmund. Dieser hatte erst vor fünfzehn Minuten das Restaurant betreten, weil sein Flieger aus Köln Verspätung gehabt hatte. Mittlerweile hatte Calli aber die ersten drei Gänge bereits komplett aufgeholt. Ich ging zur Garderobenstange, griff nach meiner Jacke und schaute mich, bereits beim Rausgehen, noch einmal um. Ich sah, wie sich Calli, den man ans Kopfende eines Tisches platziert hatte, angeregt mit jemand mir Unbekanntem unterhielt.
Vor sich hatte der ehemalige Bayer-Manager acht (!) volle Crème brûlée Schälchen in einer langen waagerechten Reihe aufgebaut. Ich weiß noch, wie ich instinktiv dachte: 'Hah, da möchte der Calli anhand dieser Gefäßkette seinem Gegenüber wohl mal ganz gepflegt einen intelligenten taktischen Schachzug aufzeigen.'
Nichts ist los mit Taktik
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Ich öffnete die Tür, lächelte einem Mitarbeiter des Magazins dankbar grüßend zu und drehte mich ein letztes Mal zum ehemaligen Bundesliga-Manager und seinem Gesprächspartner um. Neugierig wollte ich schauen, was Calli denn da nun Großartiges aus der Taktikkiste anhand der acht Crème-brûlée-Schälchen präsentierte. Doch ich hatte mich offensichtlich geirrt. Denn genau in der Sekunde, als ich meine Augen auf die beiden richtete, inhalierte Calli die letzte Schale des süßen Nachtischs in einem Zug und schob mit einer ausschweifenden Armbewegung alle acht feinsäuberlich geleerten Gläser zurück in die Mitte des Tisches. Ich schüttelte ungläubig grinsend mit dem Kopf. Was war ich doch nur für ein fußballverrückter Narr gewesen!
Übrigens: Calli konnte schon immer mit seinem Äußeren äußerst humorvoll umgehen. Seit jeher nennt er sich den "Bauch der Nation" und meinte einmal: "Ich war selbst Jugendtrainer, bevor ich den Medizinball verschluckt habe." Und, wie wir alle wissen, redet er gerne. Bis heute hält er einen einsamen Rekord: Im Sport1-"Doppelpass" quatschte er einmal an einem legendären Vormittag 4 Minuten und 40 Sekunden am Stück.
Mit dem Reißverschluss hereingelegt
Apropos "Doppelpass". Einer der beiden Gründer des Magazins "11 Freunde", das in diesen Tagen sein 20-jähriges Jubiläum feiert, Philipp Köster, saß vor einigen Jahren auch einmal fürs Fernsehen an einem frühen Sonntagmorgen in München. Damals war in der Sendung noch stets Udo Lattek mit dabei. Und Köster hatte direkt neben diesem Fußball-Urgestein Platz genommen. Punkt 11 Uhr war Beginn. Einzeln wurden die Gäste nacheinander vorgestellt. Was die TV-Zuschauer nicht sahen: Unvermittelt beugte sich Lattek zu Köster herüber und sagte: "Einer von uns beiden hat den Hosenstall offenstehen - und ich bin es nicht." Genau in diesem Augenblick schwenkte die Kamera auf Köster. Und die Zuschauer an den Bildschirmen sahen einen jungen Mann, der sie nicht wie zuvor alle anderen Gäste in der Runde anschaute - sondern mit gesenktem Kopf sehr irritiert auf seinen Hosenstall blickte. Als nächstes lächelte Udo Lattek mit einem breiten Grinsen für die Zuschauer daheim in die Kamera. Und Köster? Der wusste mittlerweile: Auch sein Reißverschluss war zu.
Seit nunmehr 20 Jahren liefert die "11Freunde"-Mannschaft Monat für Monat ein starkes Stück Fußballkultur ab. Rechtzeitig zum Jubiläum im April haben die beiden Chefredakteure Philipp Köster und Tim Jürgens ein prall gefülltes Buch mit herrlichen Storys und wunderbaren Fotos aus zwanzig Jahren ihrer Geschichte veröffentlicht. Unbedingt lesenswert!
Und natürlich darf auch Reiner Calmund in diesem Buch nicht fehlen. Er sagt über sich und die Erlebnisse mit dem Magazin "11Freunde": "Auch wenn es nicht immer vergnügungssteuerpflichtig war – ohne euch hätte was gefehlt." Und wenn es nur dieses eine wunderbare Abendessen vor zehn Jahren im "Schneeweiß" in der Simplonstraße in Berlin gewesen ist!
Quelle: ntv.de