Fußball

Zwei Dummheiten und ein Kacktor Als wäre Bayer Leverkusen der Teufel höchstpersönlich

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Deutscher Meister sind sie bereits, DFB-Pokal-Finalist ebenfalls und nun zieht Bayer Leverkusen auch noch ins Endspiel der Europa League ein. Der Weg dorthin wird zum großen Spektakel. Obwohl die AS Rom quasi chancenlos ist, steht Bayer kurz vor dem Aus.

Der FC Bayern, der VfB Stuttgart, Borussia Dortmund, die AS Rom - sie müssen sich vorkommen wie Babaorum, Aquarium, Laudanum und Kleinbonum. Wie die legendären, befestigten Römerlager in der Bretagne, die einst so verzweifelt darum gekämpft hatten, das kleine Gallische Dorf, das Dorf der Unbeugsamen, einzunehmen. Doch jeder Versuch endete mit böser Kloppe von Asterix, Obelix und Co. Gegen deren Zaubertrank war einfach kein Kraut gewachsen. So wie gegen die mitreißenden Fußballer von Bayer Leverkusen in dieser Saison nichts, gar nichts zu machen ist. So wie die das Dorf der Unbeugsamen bleiben und Benfica Lissabon als europäischen Rekordhalter ablösten. Zwischen 1963 und 1965 waren die Portugiesen 48 Mal ungeschlagen.

Am Donnerstagabend war die AS Rom bereit, Leverkusen nach 48 Pflichtspielen ohne Pleite zurück vom Olymp der Unbesiegbarkeit zu zerren. Doch dann kam (Josip) Stanisix, dribbelte und traf. In der 97. Minute, um kurz vor 23 Uhr, knallte die BayArena komplett durch: 2:2. Unfassbar. Unfassbar! UNFASSBAR! "Es ist schwer zu erklären", sagte der abermals mal fassungslos-beseelte "Chef de Mission" Xabi Alonso. Immer wieder sei er wegen der Comeback-Qualitäten "sprachlos", es sei "großartig, das Finale auf diese Art und Weise zu erreichen".

Bayer Leverkusen - AS Rom 2:2 (0:1)

Tore: 0:1 Paredes (43., Foulelfmeter), 0:2 Paredes (66., Handelfmeter nach Videobeweis), 1:2 Mancini (82., Eigentor), 2:2 Stanisic (90.+7)
Leverkusen: Kovar - Tapsoba, Tah, Hincapie - Frimpong (90. Stanisic), Xhaka, Palacios, Grimaldo (90. Kossounou) - Hofmann (81. Wirtz), Adli, Hlozek (74. Schick). - Trainer: Alonso
Rom: Svilar - Mancini, Ndicka, Angelino (81. Smalling) - El Shaarawy , Paredes, Spinazzola (21. Zalewski) - Cristante, Pellegrini (81. Abraham) - Azmoun (72. Bove), Lukaku. - Trainer: De Rossi
Schiedsrichter: Danny Makkelie (Niederlande)
Gelbe Karten: Tapsoba, Tah, Wirtz - Mancini, Pellefrini, Paredes, Zalewski
Zuschauer: 30.210 (ausverkauft)

Natürlich war das verdient. Die Mannschaft von (Xabi) Alonsix, dem majestätischen Trainer, hatte sich wieder mal die Füße wund geschossen, die AS Rom teilweise gnadenlos an die Wand gespielt, hohe Kunst am Ball und in der Spielorganisation gezeigt, vor allem dank Granik Xhaka und dem alles überragenden Weltmeister Exequiel Palacios. Aber sie hatten dieses verdammte Tor nicht getroffen. 32 Schüsse feuerten sie ab, aus besten Lagen. Mal flog der herausragende Mile Svilar dazwischen, mal fehlten Zentimeter oder irgendein italienisches Abwehrbein kam noch rechtzeitig angerauscht. Es war wirklich zum Mäuse melken. Wann hat man Xabi Alonso schonmal so oft die Arme zur Verzweiflung heben sehen?

Wirtz kommt spät und leidet

Am Ende konnte der Baske die Arme aber erneut vor Freude, vor Glück, vor Wahnsinn nach oben reißen. Wofür ist dieses Wort (der Wahnsinn) eigentlich erschaffen worden? Die Geschichte des Begriffs wird auf jeden Fall neu erzählt oder zumindest dringend erweitert werden müssen. Wahnsinn steht seit dieser Saison für Bayer Leverkusen. Mittlerweile steht die Mannschaft bei 32 Toren ab der 80. Minute. Und bei 14 Treffern in der Nachspielzeit. Was für eine Gier, was für eine Mentalität. Kapitän Granit Xhaka, der vielleicht mächtigste Fußball-Imperator Europas in diesen Wochen, staunte später über den nächsten Last-Minute-Punch seiner Mannschaft. Aber wundern, das tat er sich nicht. Er kennt seine Mitspieler und deren absolute Leidenschaft: "Es war einmal mehr der Wille, noch ein Tor zu schießen und nochmal draufzugehen, das ist unfassbar."

Einer, der für diese LEIDENschaft besser stand als kein zweiter, war Florian Wirtz. Der kleine Magier saß bis zur 81. Minute draußen. Er war angeschlagen. Bei jedem anderen Spielverlauf wäre er wohl nicht eingesetzt worden. Aber weil Bayer in den Abgrund schaute, weil nicht nur die erste Pleite der Saison drohte, sondern auch der Traum zu platzen, ging Alonso volles Risiko. Als der geniale Spielmacher zur Bank lief, sich für seinen Einsatz bereit machte, bebte das ängstliche Stadion. Mit 0:2 lag Bayer zurück, der Vorsprung aus dem Hinspiel war aufgefressen. Niemand konnte das fassen. Zu dominant war die Leistung in Rom und in Leverkusen bis hierher gewesen, als dass irgendjemand das Gefühl haben konnte, hier walte Fußball-Gerechtigkeit. Zwei Elfmeter hatten die AS zurück in dieses Duell geholt. Einmal zog Jonathan Tah Stürmer Sardar Azmoun völlig unnötig zu Boden (41.), das andere Mal sprang Adam Hložek der Ball an die Hand vorm Gesicht (65.). Beides sehr unglücklich, aber beide Entscheidungen waren vertretbar. Leandro Paredes trat jeweils an und ließ Matej Kovar keine Chance.

Florian Wirtz war angeschlagen und kam erst spät ins Spiel.

Florian Wirtz war angeschlagen und kam erst spät ins Spiel.

(Foto: IMAGO/kolbert-press)

Die AS lebte, Paredes brodelte. Und Leverkusen, diese selbstsichere Mannschaft, sie wankte. Wie ein Weißer Hai auf Beutejagd hatten die Italiener plötzlich den Hauch von Zweifeln bei Alonsos Galliern erschnüffelt. Hatten, obwohl eigentlich überdeutlich unterlegen, gute Chancen auf weitere Tore verpasst. Sollte es wirklich das bittere Déjà-vu geben? Sollte Bayer wie im Vorjahr wieder im Halbfinale an der Roma scheitern? Hatte Leverkusen das Glück aufgebraucht, das Karma-Konto leergeräumt? Der Stadion-DJ hatte kurz vor Anpfiff "Kill me slow" gespielt, den Dance-Klassiker von David Guetta. Sollte der Traum vom Triple tatsächlich auf so brutale Weise sterben? Drückend überlegen, verzweifelt im Abschluss, bestraft durch zwei Dummheiten?

Leverkusen machte einfach weiter. Nicht aufgeben. Niemals. In der Champions League, also eine europäische Liga höher, gibt es ein prominentes Pendant: Real Madrid tanzt regelmäßig einen feurigen Tango am Abgrund und schwingt sich im letzten Moment zurück aufs Parkett. Weil Real eben Real ist. Weil Real nie stirbt. Warum nicht bei den Besten lernen und abkupfern. Gut kopiert ist schließlich besser als schlecht selbst gemacht. Die unermüdlichen Jeremie Frimpong und Amine Adli rannten weiter wie die Irren an. Adli schoss nach 73 Minuten hauchzart vorbei. Das Spiel hatte jede Kontrolle verloren. Auch etwas, dass die Madrilenen in großen Momenten zur eiskalten Perfektion getrieben haben. Die Gallier stürmten, die Römer verteidigten. Sie warfen alles rein, klärten zur Not auch mal mit einem Fallrückzieher. Kill me slow! Dann die 82. Minute, Ecke Leverkusen, Keeper Svilar fliegt, behindert vom eigenen Mann, unter dem Ball durch, der knallt ins Gesicht des völlig überraschten, alleinstehenden Gianluca Mancini und von dort ins Leverkusener Glück. Was für ein, Pardon, Kacktor!

"Ich wäre echt enttäuscht gewesen ..."

Bayer war zurück, Bayer war im Halbfinale. Aber Bayer hatte nicht genug. Es stand immer noch 1:2, nach 48 Spielen drohte die Serie zu reißen. Also stürmte die besessene Werkself nach vorne, als wäre sie der Teufel höchstpersönlich, dabei wären es doch die Römer, die das nächste Tor viel dringender gebraucht hätten - fürs Weiterkommen. Xhaka gestand: "Ich wäre echt enttäuscht gewesen, wenn wir weitergekommen wären, aber verloren hätten." Gier, Gier, maximale Gier. "Gegen so eine Mannschaft, die brutal viel Erfahrung hat, nochmal so zurückzukommen und vor allem nicht zu verlieren, ist unglaublich." Stanisic war von seinem Anführer perfekt freigespielt worden, er schlug einen Haken und hämmerte den Ball ins lange Eck. Am Sonntag geht es übrigens zum VfL Bochum, dort könnte die Marke von 50 Spielen ohne Niederlage fallen. Aber: Die letzte Mannschaft, die Bayer in einem Pflichtspiel besiegen konnte, war eben der VfL, am 34. Spieltag der letzten Spielzeit.

In der Besessenheit, die gigantische Serie zu retten, war immer Frimpong losgerannt, den die Römer so richtig gefressen hatten. Besonders seit der 19. Minute. Leonardo Spinazzola lag im Mittelfeld verletzt am Boden, aber der Bayer-Verteidiger spielte den Ball nicht ins Aus, nicht wie von Coach Alonso gefordert, sondern sprintete los. Seine Aktion verpuffte, beschwor aber das erste Rudel von gleich mehreren an diesem Abend herauf, der immer nickeliger wurde. Kleine Schubsereien überall. Die Italiener hatten das Spiel mit den Emotionen zum Teil ihres Plans gemacht.

"Sie waren einfach zu gut"

"Wir wussten das und haben das eigentlich ganz gut im Griff gehabt", befand Matchwinner Stanisic später. Für Frimpong galt das nicht unbedingt, immer wieder war er mittendrin, wenn es unruhig wurde. Dass er immer wieder frech tänzelte, vor seinem Gegenspieler, vor der Roma-Bank, es ließ die Emotionen nicht runterkochen. Bis zum Ende wurde es ein leidenschaftlicher Kampf, der bisweilen an der Grenze des Respekts ausgetragen wurde. Auf dem Platz, an den Bänken. Auch dort gingen Römer und Leverkusener immer wieder wortreich aufeinander los. Immerhin die Trainer Xabi Alonso und Daniele de Rossi reichten sich die Hand, deeskalierten, wann immer es nötig war.

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Der Ex-Weltmeister war später voll des Lobes - für beide Mannschaften: "Wir haben unser Bestes gegeben und waren auf dem besten Weg, ein Kunststück zu vollbringen. Aber sie waren einfach zu gut. Sie haben es verdient, ins Finale einzuziehen." Dass die Werkself seinem Team auch noch den allerkleinsten Triumph nahm, den Sieg, nahm er gelassen hin: "Manche Saisons sind einfach von Gott gesegnet." Leverkusen, das unfassbare Dorf der Unbeugsamen, es bleibt einfach uneinnehmbar. Und noch einmal hatte der Stadion-DJ seinen Spaß. Unmittelbar nach Abpfiff legte er "Bella Ciao" auf. Fiese Nummer.

Vor der eigenen Kurven tanzten sie, ausgelassen, ungläubig und blicken kaum zu fassenden Tagen entgegen: "Es könnte eine sehr geile Woche werden", befand Stanisic. Nach dem Einzug ins Europa-League-Finale wartet nun eine Traumwoche. Am letzten Liga-Spieltag gegen den FC Augsburg steht die Übergabe der Meisterschale an, am 22. Mai das Europacup-Finale in Dublin, drei Tage später das DFB-Pokalendspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern und am Sonntag zum Abschluss ein Autokorso inklusive einer Feier mit den Fans in der Arena - als Triple-Sieger?

Quelle: ntv.de

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