Mit Schnick-Schnack-Schnuck Bayern blamiert Rehhagels Hertha
18.03.2012, 06:24 Uhr
Deutlicher geht es kaum.
(Foto: dpa)
Für den FC Bayern ist es der nächste Rausch, für Hertha BSC der Sturz ins Bodenlose: Mit 6:0 gewinnt der Rekordmeister auswärts gegen eine Berliner Mannschaft, die so hilflos agiert wie ihr Rettertrainer Otto Rehhagel inzwischen wirkt. Während sich die Münchner wieder als Meisterschaftsfavorit wähnen, ist Hertha statistisch abgestiegen.
Irgendwas ist immer. Als Sportdirektor Christian Nerlinger seinen Trainer Jupp Heynckes zum ersten Mal auf einer Spielpressekonferenz vertreten musste, hatten die Bayern gerade 2:3 in Mainz verloren und dadurch auch die Tabellenführung an Meister Dortmund. Nach dem Bundesliga-Gastspiel in Berlin durfte Nerlinger nun wieder als Ersatz-Trainer ran, Heynckes plagte eine Grippe. Gut für Nerlinger: Diesmal waren die Münchner von einer Niederlage so weit entfernt gewesen wie die Herthaner von ihren Gegenspielern. Schlecht für Nerlinger: Da war noch die Sache mit dem Schnick-Schnack-Schnuck. Die Sache mit Franck Ribery und Toni Kroos.
Die beiden Mittelfeldspieler hatten beim Münchner 6:0 (3:0)-Sieg gegen Otto Rehhagels Hertha vor einem Freistoß per Stein-Schere-Papier ausgeknobelt, wer diesmal schießen dürfe. Mitten auf dem Rasen, vor 74.244 Zuschauern im Berliner Olympiastadion, die dort an einem wunderbaren Frühlingsabend je nach Präferenz den nächsten Bayern-Rausch bewundern durften oder das Hertha-Debakel ertragen mussten.
Vorletzter mit Option auf Letzter

Schnick-Schnack-Schnuck? Nein! Hier klatscht Toni Kroos nur ganz normal mit Jerome Boateng ab.
(Foto: dpa)
Wie viele von ihnen tatsächlich gesehen haben, dass Ribery gewann (und anschließend nicht traf), bleibt ein Mysterium der jüngeren Fußballgeschichte. Nerlinger musste trotzdem erklären, wie diese Extra-Spielerei beim selbst aus Bayern-Sicht erschreckend leichten Kantersieg in der Hauptstadt zu deuten war: Als verspielter Beleg der wieder entdeckten guten Laune in München, oder als größenwahnsinnige Verhöhnung des Gegners, der nie einer war? Nerlinger sagte: "Man sollte vor allen Dingen immer berücksichtigen, dass es hier bei der Hertha um gnadenlosen Abstiegs- und Existenzkampf geht und dementsprechend sich auch respektvoll und professionell verhalten."
Tore: 0:1 Müller (9.), 0:2, 0:3 Robben (12., 19./FE), 0:4 Gomez (50./FE), 0:5 Kroos (51.), Robben (67./FE)
Berlin: Kraft (46. Burchert) - Janker, Hubnik, Bastians, Perdedaj (46. Morales) - Lell, Niemeyer, Ottl, Rukavytsya - Raffael, Ramos (72. Lasogga)
München: Neuer - Lahm, Badstuber, Boateng, Alaba - Kroos, Gustavo, Ribery (73. Rafinha ), Müller (61. Tymoshchuk ), Robben ( 70. Pranjic ) - Gomez
Das Spiel im n-tv.de Liveticker nachlesen
Denn während seine Bayern auf Wolke sieben aus dem Stadion schwebten, schlichen die Herthaner nach den Siegen der Abstiegskonkurrenz als neuer Tabellenvorletzter vom Platz. Erst zweimal hatten die Berliner in der Bundesliga mit 0:6 hoch verloren, am Saisonende stiegen sie jeweils ab. Falls der 1. FC Kaiserslautern ab 15.30 Uhr (im n-tv.de Liveticker) gegen den FC Schalke gewinnt, trainiert Trainer-Guru Rehhagel ab Montag den Tabellenletzten der Fußball-Bundesliga.
Mätzchen nach dem nächsten Rausch
Überbewerten wollte Nerlinger die Münchner Mätzchen nach einer Woche, die die Bayern mit drei Siegen (Hoffenheim, Basel, Hertha) und sagenhaften 20:1-Toren abgeschlossen hatten, aber auch nicht: "Natürlich ist die Stimmung bei uns gut, und da passiert so was mal." Unangenehm war es ihm dennoch, weil er zuvor zur Zusammenfassung der neuerlichen Bayern-Gala noch so angenehme Formulierungen wie "hochkonzentriert gespielt", "homogene Mannschaft", "individuelle Klasse immer wieder gezeigt", "hochverdienter Sieg", "Ruck" und "zusammengerauft" hatte verwenden dürfen - und Arjen Robben als Mannschaftsspieler gelobt hatte, weil der ja den zweiten Bayern-Elfmeter großzügig Mario Gomez überlassen hatte, nachdem er sich den Ball vor dem ersten Strafstoß noch gewohnt egoistisch selbst gesichert hatte.
Andererseits: Wenn Bayern-Verantwortliche nach einem Bundesligaspiel vor allem zu brisanten Themen wie Knobelspielchen auf dem Rasen Stellung beziehen müssen, kann sonst nicht wirklich viel falsch gelaufen sein im Spiel. Gefühlt verließen die Bayern das Berliner Olympiastadion nicht nur auf einer Wolke, sondern auch als Tabellenführer und neuer Meister. Tatsächlich ist Titelverteidiger Dortmund immer noch fünf Punkte enteilt und zeigte beim 1:0 gegen Bremen keine Anzeichen einer nahenden Schwächephase. Das Toreschießen allerdings, das werden sie auch beim BVB zugeben, gelingt den Bayern derzeit besser.
Fehlerquote um ein Minimum reduziert

Hilflose Herthaner: Die Bank der Berliner kam gegen den FC Bayern aus dem Ärgern gar nicht mehr heraus.
(Foto: dpa)
Den Herthanern gelingt das fast nie. Sie blieben gegen die Münchner im neunten Rückrundenspiel zum siebten Mal ohne Tor. Der als Rettertrainer aus dem Ruhestand geholte Rehhagel wurde deshalb gar nicht erst zum Thema Schnick-Schnack-Schnuck befragt, obwohl er sicher liebend gern dazu referiert hätte. Stattdessen musste der 73-Jährige erklären, was er selbst nicht verstand: Warum nach einer Woche Grübelei über die richtige Taktik gegen den in seiner 7:1/7:0-Erfolgsformation angetretenen FC Bayern und drei Geheimtrainings eine kuriose 4-1-4-1-Aufstellung herausgekommen war, die der Berliner "Tagesspiegel" anschließend ein "selbstmörderisches Experiment" nannte. Ein Experiment, das schon nach 19 Minuten gescheitert war, mit dem Berliner Blitz-K.o.
"Wir sind nach 20 Minuten schon wieder 0:3 in Rückstand gelegen, da war eigentlich jede taktische Vorgabe wieder über den Haufen geschmissen", attestierte Ex-Bayer Andreas Ottl seinem Trainer nach dem Spiel immerhin, einen taktischen Plan gehabt zu haben. Der hatte laut Rehhagel wie folgt ausgesehen: "Wir haben die Mannschaft so gestellt, dass wir ein bisschen aus der Defensive spielen um lange dem ersten Tor zu entgehen. Aber es ist uns nicht gelungen." Außerdem hatte das Team Anweisung gehabt, seine "Fehlerquote um ein Minimum" zu reduzieren. Wäre das kein Versprecher gewesen, hätte Hertha immerhin ein Erfolgserlebnis gegen die Bayern verbuchen können.
Rehhagel resigniert
So stand auf der Habenseite am Ende: nichts. Die Hertha agierte mit ihrem von Rehhagel wild verschobenen Personaltableau über 90 Minuten wie ein Absteiger. Zu individuellen Fehlern gesellten sich die bekannte Abschlussschwäche und eine notorische Zweikampfscheu. Nach 20 Minuten, als schon alles verloren aber noch längst nicht alles überstanden war, sang die Ostkurve "Wir wollen euch kämpfen sehen!" Zuvor hatte sie gesehen, wie die Herthaner auch Duelle verloren, die sie schon gewonnen hatten, beispielsweise vor dem 0:2. Und wenn sie dann doch mal richtig hingegangen waren, sagte Rehhagel, "dann gab es gleich Elfmeter". Ein typisches Rehhagel-Witzchen, etwa dass die Bayern immerhin nur sechs statt sieben Tore geschossen hatten, kam ihm diesmal nicht über die Lippen. Der große Otto, der sich in Berlin bislang als sein größter Fan präsentiert hatte, klang einfach resigniert. Fakt ist ja: Das beste Spiel seit der Entlassung von Rehhagels glücklosem Vorgänger Michael Skibbe hat Hertha beim 0:1 gegen Dortmund gemacht - als "König Otto" noch nicht inthronisiert war.

Ex-Bayer Christian Lell stand gegen die Münchner wie das gesamte Team auf verlorenem Posten.
(Foto: REUTERS)
Außerdem: Zu den Unzulänglichkeiten auf dem Rasen kommen bei Hertha zunehmend Unzulänglichkeiten abseits des Platzes. Christian Lell, den Rehhagel gegen Bayern vom Rechtsverteidiger zum Mittelfeldspieler umschulte, befand unmissverständlich: "Ich bin es auch leid, hier Woche für Woche zu stehen. Die Mannschaft muss einiges ausbaden. Sicherlich ist das keine Glanzvorstellung von uns, da brauchen wir gar nicht drüber reden. Aber im Moment gelingt es nicht, uns richtig einzustimmen." Konkreter wollte er lieber nicht werden.
Offensichtlich ist aber: Rehhagel, der seine Mannschaft vorab allen Ernstes speziell vor den starken Münchner "Außen Ribery und Robben" gewarnt hatte, greift auch mit der Korrektur seiner Einstellungs- und Aufstellungsfehler daneben. Der in der Halbzeitpause für den gegen Franck Ribery überforderten Fanol Perdedaj eingewechselte Alfredo Morales verschuldete im zweiten Durchgang zwei Elfmeter. Gegen Ribery. Auch die Kabinenansprache von Rehhagel, in der er laut Ottl vor allem an die Ehre der Spieler appelliert habe, war von bescheidenem Erfolg gekrönt. Sechs Minuten nach Wiederanpfiff war aus dem 0:3 ein 0:5 geworden. Es passte zu diesem rundweg misslungenen Berliner Abend, dass die Stadionregie nach dem fünften Gegentor noch eben mit der wichtigen Blitzinfo aufwartete, dass kein Bundesligatrainer häufiger gegen den FC Bayern gewonnen habe als Rehhagel.
"Ich kann's nicht erklären"
Der frühere Herthaner Jerome Boateng, der inzwischen in München verteidigen darf und das gegen Hertha kaum musste, kondolierte nach dem Debakel seines Ex-Klubs angemessen betroffen: "Für Hertha ist es natürlich bitter. Aber ich spiele jetzt bei den Bayern und bin froh, dass wir gewonnen haben. Jetzt hoffe ich, dass Hertha die nächsten Spiele gewinnt." Rehhagel hofft einfach mal mit und weiter auf den Stimmungsumschwung, den er bisher nicht bewirken konnte.
Lell, der einst bei den Bayern verteidigte und das inzwischen für Hertha tun muss, offenbarte nach dem Spiel ebenfalls eine gewisse Hoffnung - ergänzt um den Zusatz "slosigkeit". "Wir haben 50.000 Fans im Rücken, die sicherlich hohe Erwartungen haben, aber uns auch nach vorne peitschen. Ich kann's nicht erklären, warum da keine Aggressivität reinkommt." Mit seiner Ratlosigkeit befindet er sich in Berlin in bester Gesellschaft.
Quelle: ntv.de