
Union Berlin spielt in Europa. Das allein ist schon verrückt. Es ist der Lohn für den unglaublichen Aufstieg der Eisernen in den letzten Jahren. Doch nun sehen sie sich mit einigen neuen Problemen konfrontiert. Auf ihrem Weg sammeln sie bislang wenige Punkte, aber viele Erinnerungen.
Flutlicht, ein ausverkauftes Stadion, Europapokal - und trotzdem ist manchmal alles nervig. Sogar "Ritter Keule", das sonst so kraftvolle Maskottchen, ließ die Schultern hängen. Eigentlich lebt Union Berlin gerade den Traum eines Bundesliga-Klubs: den europäischen Wettbewerb. Die Köpenicker machen das, wovon ihr blau-weißer Stadtrivale im Moment nur träumen kann, und sammeln fleißig Erinnerungen. Dass daran aber nicht alles fantastisch ist, erfahren die Eisernen auf ihrem Weg durch die UEFA Conference League bei der 1:2-Niederlage gegen Feyenoord Rotterdam nicht zum ersten Mal.
Denn die Pleite lässt sich eigentlich mit einem Wort zusammenfassen: unnötig. Nicht nur, weil der Gruppenletzte nun die letzten beiden Spiele gewinnen muss, um weiterzukommen. Sondern auch das Zustandekommen: Die meiste Zeit haben die Berliner die Partie im Griff. Den Rückstand nach einer Viertelstunde gleicht Kapitän Christopher Trimmel kurz vor der Halbzeit sehenswert aus.
Nach der Pause ist Union sogar kurz davor, das 2:1 zu machen. Doch dann wird Union-Torwart Andreas Luthe der Berliner Dauerregen zum Verhängnis. Der Keeper rutscht auf dem "beschissenen Platz" (wie Rani Khedira den matschigen Rasen nannte) aus, ein Rotterdamer kann zum 1:2 einschieben. "Fußball ist ein Fehlerspiel. Das war ein Fehler zu viel. Das hat das Spiel gedreht", sagt Union-Trainer Urs Fischer nach der Partie.
"Haben uns selbst geschlagen"
Dem Torwart macht er keinen großen Vorwurf. Vielmehr stört Fischer eine andere Sache: "Ich meine, ein Tor [nicht] zu erzielen, das könnte man auch als Fehler bezeichnen. Aber wenn wir so beginnen, kommt es nicht gut." Damit meint er auch die ungenutzte Großchance von Sheraldo Becker in der sechsten Minute und die restliche Chancenverwertung. "Zum Fußball gehören Fehler." Wie es manchmal so ist, gibt es dann kurz vor Schluss gleich zwei weitere Aktionen, die es nicht braucht: Erst fliegt Kapitän Trimmel, dann der eingewechselte Cedric Teuchert vom Platz. "Wir haben uns heute selbst geschlagen", sagt Abwehrchef Robin Knoche.
Auf internationaler Ebene zahlen die Köpenicker Lehrgeld. Der Rhythmus ist ungewohnt, er verändert die Abläufe, er raubt Zeit. Wie auch Trainer Fischer zu berichten weiß. "Wir können im Moment nicht arbeiten. Wenn du jeden dritten Tag ein Spiel bestreitest, geht es vor allem um Regeneration", erklärt er vor dem Spiel, auf mögliche Trainings-Korrekturen nach dem 2:5 am Samstag gegen die Bayern angesprochen. Plötzlich sieht sich Union mit dem großen Problem eines Topklubs konfrontiert: der Dreifachbelastung aus Liga, Pokal und internationalem Wettbewerb. "Das ist der größte Unterschied zur vergangenen Spielzeit: Dass wir nicht eine Woche Zeit haben, uns auf einen Gegner vorzubereiten." Deshalb gehe vieles über Videoanalyse und Gespräche.
Natürlich ist das keine Ausrede für die beiden Niederlagen, genauso wenig wie der gestrige Spielort. Erneut muss Union für den internationalen Wettbewerb in das ungeliebte Olympiastadion ausweichen. Und obwohl die Luftlinie zur eigentlichen Heimat, der Alten Försterei, nur 23 Kilometer beträgt, klagt ein Köpenicker schon auf dem Hinweg über "die längste Bahnfahrt" seines Lebens. Im Stadion machen die Fans klar, was sie vom Gastauftritt im Berliner Westend halten. Nichts. Erst mit einem Banner ("Wir brauchen die Alte Försterei wie die Luft zum Leben"), dann mit Gesängen ("Alte, Alte, Alte Försterei"). Viel glücklicher sehen die Gäste aus Rotterdam auch nicht aus. Ihnen peitscht die komplette Spielzeit über der Regen durchs Marathontor in den Rücken.
Die Eskalation bleibt aus
Dennoch ist es der wahrscheinlich der bestmögliche Spielort. Denn seit Beginn der Pandemie erlebt die nervöse Hauptstadt ihr erstes richtiges Risikospiel. Feyenoords Fans sind europaweit berüchtigt. Das bekommen auch die Berliner zu spüren. Vor dem Hinspiel wird die Unioner Delegation attackiert. Beim Rückspiel in Berlin sind rund 2000 Beamte im Einsatz. Die Anreisewege der Fan-Lager werden getrennt, die Rotterdamer am Stadion durch den weitläufigen Olympiapark gelotst.
Die erste Provokation der Gäste gibt es schon am Mittwochmorgen. Um zwei Uhr nachts werden an der Berliner East Side Gallery zwei niederländische Staatsbürger aufgegriffen - noch mit der Farbe an der Hand. Sie haben auf die Berliner Mauer groß "Feyenoord" gesprüht. Insgesamt werden vor dem Spiel mehr als 70 Personen, überwiegend aus den Niederlanden, festgenommen. In den Tagen zuvor gibt es Gerüchte, dass es auch Ultras aus Polen, Dänemark, Rostock und Gladbach in die Stadt ziehen wird. Unmittelbar vor dem Spiel berichtet die Polizei von Angriffen, Sachbeschädigung und dem Abbrennen von Pyro-Fackeln in Stadionnähe sowie in U-Bahnstationen. Diese Aufregung! Der Fans, der Stadt und der Hauptstadt-Presse, die selten mit derartigen Szenarien konfrontiert wird. Berlin und Europa. Daran müssen sich alle gewöhnen.
Ein Abend in einem ungeliebten Stadion endet also mit einer komplett unnötigen Niederlage. Europa ist nicht immer einfach. Für Fischer gab es nach der Partie "sicherlich das eine oder andere anzusprechen". Doch für mehr bleibt erneut keine Zeit. Am Sonntag ist Bundesliga. Beim 1. FC Köln. Zurück im grauen Alltag. Im Stadion richten ein paar Ordner "Ritter Keule" auf. Sie wollen ein Selfie mit dem seltenen Gast im Berliner Westend. Erinnerungen sammeln. Flutlicht, ein unter Pandemiebedingungen ausverkauftes Stadion, Europapokal. Das wird bleiben.
Quelle: ntv.de