Fußball

Spott, Verzweiflung und Angst Die europäischen Giganten taumeln am Abgrund

Läuft nicht für Kylian Mbappé und die französische Nationalmannschaft.

Läuft nicht für Kylian Mbappé und die französische Nationalmannschaft.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Die Nations League macht Pause. Und zwei Fußball-Giganten nehmen große Sorgen mit in die freie Zeit. England und Frankreich droht der Abstieg. Viel entscheidender aber ist: Mit Blick auf die Weltmeisterschaft in Katar türmen sich massive Probleme auf.

Das Gute an einem Totalschaden ist, dass man mehr eigentlich nicht kaputt machen kann. Für den französischen Fußball ist die gerade erlittene "Panne generale" gegen Kroatien (0:1) in der Nations League demnach eine sehr willkommene Nachricht. Weil eine Nationalmannschaft nicht einfach verschrottet werden kann, wird nun allerlei Werkzeug vorgekramt, um die Edelkarosse "Les Bleus" wieder fahrtauglich zu bekommen. Allerspätestens auf dem katarischen Roadtrip durch die vorweihnachtliche Wüste muss der Motor auf Höchstleistung laufen. Im Emirat steht für die "Équipe Tricolore" die Titelverteidigung nach dem Triumph 2018 auf der Agenda.

Doch nicht nur in der französischen garage automobile wird fleißig geschraubt. Auch im englischen car workshop werden die Chefmechaniker in den kommenden Monaten einen Rettungsplan ertüfteln. Nach zwei Peinlichkeiten gegen Ungarn (zuletzt ein 0:4 daheim) ist der Bolide in einem katastrophalen Zustand. Spott von Fans, Experten und Medien ergießt sich über die "Three Lions" und deren Nationaltrainer Gareth Southgate. Der Kredit nach zwei sehr erfolgreichen Turnieren (WM-Halbfinale 2018 und EM-Finale 2021) ist aufgebraucht. Englands gewohnt bissige Medien wählten Worte wie "erschütternd", "erniedrigend" oder "furchtbar". Das Publikum rief Coach Southgate wegen dessen gewählter Aufstellung in Sprechchören gehässig zu: "Du weißt nicht, was du tust."

Zwei europäische Fußballgiganten taumeln. Sie taumeln dem Abstieg in der Nations League entgegen. Diesem UEFA-Wettbewerb, der im dichten Termingeflecht noch immer nach einem relevanten Platz fahndet. In diesem Sommer legten die Top-Funktionäre ihrem weiterhin kritisch beäugten Premiumprodukt das Mäntelchen WM-Härtetest um. Ein Kniff, der durchaus funktionierte. Die Stadien waren sehr gut besucht, was indes auch an der Sehnsucht der emotionalen Post-Corona-Zeit (während sich bereits eine Sommerwelle auftürmt) liegen könnte, die TV-Quoten waren ebenfalls sehr vernünftig. Eine Fußball-Überdrüssigkeit? Eher nicht.

Trainer-Ikonen sind hart angezählt

Und irgendwie schon. Zumindest bei zahlreichen Protagonisten. Nach einer zehrenden Saison sind die Akkus im tiefroten Bereich. Körperlich und mental. Am eindrucksvollsten wiesen das die kraftlos schleichenden Löwen aus England nach. Ihr Interesse an einem erfolgreichen Abschneiden? Kaum bis nicht vorhanden. Ihre Behäbigkeit und Tatenlosigkeit auf dem Rasen gegen den Untergang entfachten im Land eine wilde Debatte, die zur Unzeit kommt. Im Zentrum der Kritik: Southgate. Nun kennt er diese Situation, immer wieder wird ihm vorgeworfen, das gigantische Potenzial der Mannschaft nicht auszuschöpfen. Immer wieder wird ihm vorgeworfen, Beamten- statt entfesselten Hurrafußball spielen zu lassen. Nun muss er womöglich tatsächlich um seinen Job zittern.

Das gilt auch für Didier Deschamps, den kleinen französischen General. Als Spieler und Trainer ist er Weltmeister. Er ist ein Mann, der weiß, wie es geht. Sprich: Der die Wege zum Sieg kennt. Doch aktuell steht der 53-Jährige an einer Gabelung und weiß nicht, welcher Pfad zum Erfolg führt. Er wirkt zunehmend ratlos. So viele Stars, so viel Potenzial - und so viel Enttäuschung auf dem Rasen. Im französischen Fußball ist der Alarm längst ausgelöst. "Uns fehlten Kraft, Charakter und Energie. Das muss man akzeptieren, auch wenn es weh tut", sagte Deschamps nach dem trostlosen 0:1 gegen Kroatien, dem vierten Spiel hintereinander ohne Sieg. Auch er selbst habe nach dem Tod seines Vaters nicht "die Energie und die Kraft" gehabt, die Mannschaft aus ihrer Lethargie zu reißen. Aber auch Deschamps kennt die sehr kritischen Stimmen. Auch sie begleiten ihn durch seine Amtszeit, die seit 2012 andauert. Etwa im vergangen Jahr nach dem sensationellen EM-Knockout gegen die Schweiz im Achtelfinale (nach Elfmeterschießen).

"Vier Spiele, kein Sieg, nur drei Tore: Diese Länderspielphase war ein Fiasko", schimpfte die Zeitung "Le Parisien". Die "L'Equipe" attestierte den Les Bleus "ziemlich katastrophale 14 Tage". Auch bei den Fans wächst die Skepsis. Bei einer Abstimmung des "Figaro", ob Frankreich weiterhin Favorit auf den WM-Pokal sei, stimmten bis Dienstag rund 80 Prozent mit Nein. Deschamps versuchte, die arg aufgebrachte Volksseele zu beruhigen. "Ich mache mir natürlich keine Sorgen", behauptete er. Vor allem an der nötigen Frische fehle es seinem Team momentan.

Die Nations League schafft sportliche Probleme. Sie zerstört Aufbruchstimmungen. Zumindest bei den Giganten des kontinentalen Fußballs. Auch Deutschland stimmte bereits in das so verbreitete Klagelied ein. Bundestrainer Hansi Flick, der erfolgreiche DFB-Wolkenschieber der verhangenen (zumindest seit 2018) Post-Joachim-Löw-Ära, hatte mitten im sommerlichen Block, nach dem Duell mit England und noch vor dem Spiel gegen Ungarn geklagt: "Vier Spiele sind einfach zu viel nach so einer langen Saison." Die Nationalmannschaft, um die ab Spätsommer des vergangenen Jahres wieder eine kleine Euphorie entstanden war, war da atmosphärisch geerdet.

Flick übt vehemente Kritik

"Man muss auch mal die zwei Jahre zusammenpacken. Wir hatten eine Pandemie, da sind viele Spiele hintangestellt worden", bekannte Flick. "Wir hatten viele englische Wochen, eine kurze Sommerpause für die Spieler. Dann ist es so, dass man fast keine Vorbereitung hat, dann steigt man wieder in den Bundesliga-Alltag und in die Champions League ein." Die Topspieler seien mit ihren Mannschaften bis zum Start der WM in Katar am 21. November "alle drei, vier Tage" gefordert. Als Sinnbild für die Begeisterung an diesem sommerlichen Wettbewerb wurde ein Video herangezogen, dass Leon Goretzka völlig lustlos bei einem DFB-Quiz zeigt. "Man sollte sich dem schon mal annehmen und hinterfragen, wie man den Spielern eine Pause gönnen kann", sagte Flick, auch wegen möglicher Verletzungen in Folge der massiven Überbelastung durch den brutal dichten Spielplan. Der Bundestrainer nahm den Weltverband FIFA und die UEFA in die Pflicht. Die Experten sollten "die Dinge untersuchen und ein paar Maßnahmen festlegen".

Von seiner Kritik würde Flick wohl auch jetzt nicht abrücken, obwohl ihm die Nations League zum Abschluss noch einen wichtigen und furiosen Sieg geschenkt hat, ein 5:2 gegen den amtierenden Europameister Italien, der aber nach der verpassten Qualifikation für die Katar-Weltmeisterschaft in einem massiven Umbruch steckt. Mit wieder wildesten Personalexperimenten. Wie schon vor dem EM-Triumph im vergangenen Sommer. Beim DFB werden sie sehr seriös einzuschätzen wissen, wie sportlich wertvoll dieser Sieg gegen eine Top-Nation (außer Dienst) nun wirklich ist. Für die Stimmung war er es immens.

Anders in Italien: Das ebenso überraschende wie krachende 2:5 sorgt für große Bestürzung. "Italien, was für eine Blamage! Albtraum-Match gegen Deutschland", titelte die "Gazzetta dello Sport". Die "La Repubblica" schrieb von einer "schweren Demütigung, eine der schlimmsten in der Geschichte der Azzurri". Trainer Roberto Mancini, nach dem EM-Triumph 2021 noch der gefeierte Held, steht erstmals auch öffentlich in der Kritik. Für den 57-Jährigen gebe es "keine Entschuldigung. Der Coach wagte zu viel", monierte der "Corriere dello Sport". Für das Blatt geht es deshalb "so nicht weiter".

Drei europäische Riesen taumeln am Abgrund. Mental und körperlich ausgelaugt. Für die Nations League könnte die umstrittene Terminierung gravierende Folgen haben. Mit Frankreich und England würden zwei Giganten aus der Topgruppe absteigen, der durchaus attraktive Grundgedanke des Turniers würde damit abermals Schaden nehmen. Auch wenn der Abstieg als Element zu diesem Wettbewerb gehört. Aber nicht zwingend, wie die UEFA schon einmal bewiesen hat. Als das DFB-Team bei der ersten Auflage abstieg, wurde die Zahl der Topgruppen-Teilnehmer einfach aufgestockt.

Quelle: ntv.de

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