Erfolgreich, aber warum nur? Real Madrid tanzt surreal am Abgrund
02.05.2022, 16:11 Uhr
Meister-Helden.
(Foto: IMAGO/Marca)
Die Königlichen sind zurück auf dem Thron: Dank eines Erfolgs gegen Espanyol Barcelona feiert Real Madrid den 35. Meistertitel in der spanischen Liga. Für Carlo Ancelotti ist er historisch, für die Mannschaft bemerkenswert. Denn eigentlich taugt sie nicht mehr für den modernen Fußball.
Real Madrid ist spanischer Meister. Und das zum 35. Mal. Damit sind die Königlichen noch erfolgreicher als der FC Bayern. Die Münchner stehen bei 32 Schalen, haben allerdings gerade ihren zehnten Titel in Folge gefeiert - und wähnten sich dabei auf historischer Mission in Europa. Doch längst ist diese Annahme widerlegt. Teams aus Gibraltar, Lettland und Norwegen haben längere Serie aufzuweisen. Historisches hat sich dagegen nun in Madrid ereignet. Das italienische Gelassenheits-Phänomen Carlo Ancelotti ist nämlich tatsächlich der erste Trainer, der in den fünf Top-Ligen Europas den nationalen Meistertitel abgreifen konnte.
Nun, wie dieser historische Erfolg der Madrilenen möglich war, das ist eines der größeren Rätsel der Fußball-Gegenwart. Denn eigentlich taugt dieses Team nicht mehr für die Ansprüche des modernen Spiels. Madrid ist weder "Heavy Metal" (wie der FC Liverpool) noch "Mozart" (wie Manchester City). Was genau Real ist, das lässt sich in diesen Wochen jedoch kaum definieren. Die "Süddeutsche Zeitung" witterte das Ensemble um die ewigen Helden Toni Kroos, Luka Modric, Casemiro und Karim Benzema als besonders trittsicher am Abgrund. Allerdings sind die Bewegungen der Klub-Ikonen längst nicht mehr so filigran wie einst, nicht mehr so kraftvoll und ausdauernd. Manches wirkt hölzern, manches gestresst, vieles nicht mehr selbstverständlich.
Doch plötzlich, wenn der nächste Schritt tatsächlich in den Abgrund zu führen droht, erinnern sich die Spieler daran, dass sie eigentlich ein königliches Ballett sind. "Ancelottis große Gabe ist es, die Solisten wie ein Orchester klingen zu lassen", sagte der ehemalige Technische Direktor der Bayern, Michael Reschke, dem Online-Magazin "The Athletic" für eine epische Rückschau auf die Leistungen des Meistertrainers. Und es ist so: Die Spieler, die Solisten, entdecken Bewegungen in sich, die große Momente für das gesamte Orchester zur Folge haben. Modric kann mit einem genialen Außenrist-Pass noch immer jede Abwehr der Welt filetieren, wie etwa im Viertelfinale gegen den FC Chelsea. Kroos spürt immer noch den genialen Strategen in sich, Casemiro den omnipräsenten Abräumer. Nur einer in der Riege, der wehrt sich mit der ganzen Vehemenz seiner über 600 Spiele für Madrid dagegen, eine Teilzeit-Legende zu sein: Karim Benzema.
Komplett abhängig von Benzema
Nie war der Franzose so gut wie in dieser Saison, in diesem Kalenderjahr. Er gilt als Top-Favorit auf den Ballon d'Or. Dass Real bereits vier Spieltage vor Ende Meister ist, das ist aufs Engste mit seinen Leistungen verwoben. Und niemand im Reich der Königlichen bemüht sich darum, etwas anderes zu behaupten. Mitte des Monats bekannte Ancelotti in der Gelassenheit des ihm innewohnenden Fahrensmanns: "Wir sind von Benzema abhängig, das ist die Realität. Und ich bin sehr glücklich darüber." In 42 Pflichtspielen hat er 42 Tore erzielt, eines natürlich auch an diesem Samstag, als er spät eingewechselt den finalen Treffer beim 4:0-Erfolg gegen Espanyol Barcelona erzielte. Getreu der umgedichteten Weisheit: no Karim, no party. Wohin dieses Mantra die Mannschaft noch führen wird? Auf Europas Thron?
Es wäre ebenso überraschend wie nicht. Denn diese Altmeister von Madrid, die haben am Rande des Abgrunds eine sehr erstaunliche Fähigkeit ausgebildet. Nämlich mit ihrer Legende immer zur rechten Zeit in die Köpfe des Gegners zu gelangen. Dort für Unsicherheit zu sorgen. Dort den Gedanken wirken zu lassen, dass man ein Spiel zwar gänzlich beherrschen kann, aber dass jeder noch so kleine Fehler von der Genialität und alternden Klasse der vierfachen Königsklassen-Triumphatoren gnadenlos bestraft werden kann. Den Helden reichen Sekunden. Winzigkeiten verteilt auf 90 Minuten (oder 180 als Hin- und Rückspiel).
Und das ist kein Blendertum der alten Männer, sondern deren absolute Überzeugung. Gegen Paris St. Germain, im Achtelfinale der Königsklasse, soll Benzema in der Kabine so etwas gesagt haben wie: keine Sorge, die werden nervös. Sie wurden - und scheiterten. Das katarische Milliarden-Ensemble war wieder einmal der Luxus-Depp von Europa, Real lächelte. Und wenn es ein Gesicht gab, das dieser Zufriedenheit des Moments den größtmöglichen Charme gab, dann war es das Gesicht von Ancelotti. Dem genüsslich auf seinem Kaugummi kauenden Trainer, dem seit seiner unruhigen Zeit beim FC Bayern abgesprochen wurde, noch tauglich zu sein, um die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Nun ist er eine historische Figur. Und zufrieden. "Das macht mich stolz. Ich mag das, was ich tue. Die fünf Meisterschaften bedeuten, dass ich einen guten Job mache. Ich bin stolz, hier zu sein und will mit Real weiter Titel gewinnen."
Der königliche Genuss
Ancelotti hatte in Italien den AC Mailand (2004), in England den FC Chelsea (2010), in Frankreich Paris St. Germain (2013) und in der Bundesliga den FC Bayern (2017) zum Titel geführt. In seiner ersten Amtszeit in Madrid (2013 bis 2015) hatte er einen Meistertitel verpasst. Sein Triumph nun genoss er mit Sonnenbrille und Zigarre. So wie der ewige Hertha-Trainer Pal Dardai im vergangenen Sommer, nur natürlich: erfolgreicher. Ein Bild für die Fußball-Götter. Er genoss den Moment zwischen seinen Spielern. Die hatte er wieder einmal für sich gewonnen. Dieser Versteher, Kümmerer, dem die Kabine (der Rückhalt) wichtiger ist als das durchdachte Spiel, die taktische Nuance. Über Ancelotti sagte einst Philipp Lahm, dass er in einer Woche nicht das rede, was Pep Guardiola in drei Stunden sage. Ancelotti gibt den Spielern das stumme Vertrauen, sie liefern. Fußball ist manchmal einfach. Ancelotti sieht das genau so.
Die Meisterparty am Sonntag machte aus dem gemütlichen Signore ein Feierbiest. So sah die Zeitung "AS", den Trainer "im Hooligan-Modus". Der 62-Jährige tanzte beschwingt auf dem Meister-Bus, er sang etwas schief mit dem Anhang und schämte sich seiner Freudentränen nicht. Schon sein Vater und Großvater hätten eben nah am Wasser gebaut, berichtete er selig, "das sind die Gene". Die "Gazzetta dello Sport" in seiner Heimat würdigte seinen "Grand Slam", der "Corriere della Sera" erhob ihn sogar zu "Carlo V., König von Europa". Für "La Repubblica" steht fest: "Ancelotti V." ist "einer der größten Trainer der Fußballgeschichte".
Tatsächlich waren die voreiligen Nachrufe auf sein Wirken nicht frei von Wahrheiten. Ancelotti gibt kein aggressives Pressing (wie Jürgen Klopp) vor und auch keinen zermürbenden Ballbesitz (wie Pep Guardiola). Ancelotti lässt seine Mannschaft das tun, was sie am besten kann. Dass dabei in dieser Saison bisweilen das Element "Exzellenz" fehlt, ist ihm vermutlich nur eine weitere hochgezogene Augenbraue wert. "Mein Stil ist es, den Spielern die Möglichkeit zu geben, sich wohlzufühlen", sagte er in einem Interview während seiner ersten Amtszeit bei Real Madrid. Das gelang oft. Zuletzt beim FC Bayern, beim SSC Neapel und dem FC Everton immer öfter nicht. In einem Fußball, der immer komplexer und komplizierter wird, wirkte das taktische Laissez-faire verloren.
Und fand erst in Madrid wieder Halt. Ancelotti ließ seine Mannschaft den real-typischen "Heldenfußball" ohne komplizierte taktische Mätzchen spielen. Bewundert wird dieses Spiel der Königlichen nicht. Dass das Operetten-Publikum des Klubs wegen der Pandemie lange nicht ins Stadion durfte, hat Trainer und Mannschaft unruhige Momente erspart. Es gab Siege statt Geraune. Das Fundament für den Titel in einer Saison, in der die großen Konkurrenten Atletico und FC Barcelona schwächelten und dem FC Sevilla die königliche Kraft in großen Spielen fehlte. Real, der Gegenentwurf. Zwar wirkte auch der spanische Rekordmeister selten unverwundbar, aber es ist es eben doch, wenn es um Titel geht. Ex-Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge nannte diese Phasen einer Saison "Ancelotti-Zeit". Auch wenn sie in München vergeblich darauf warteten.
Und jetzt den Henkelpott?
In Madrid ticken die Uhren nun nach "Carletto". Weil Thibous Courtois ein fantastischer Keeper ist, weil der spielintelligente David Alaba die Abwehr orchestriert, weil das Mittelfeld mit Modric, Kroos und Casemiro alle Eventualitäten eines Spiels kennt und Lösungen parat hält, weil Benzema mit jeder Bewegung eine Gefahr heraufbeschwört. Weil Vinicus Junior endlich nicht mehr nur Teilzeit-Talent ist, sondern begeisternd und effizient spielt. Und weil der italienische Grandseigneur mit seiner Art der unerschütterlichen Überzeugung wie Baldrian gegen aufkeimende Unruhe wirken kann. Kritik daran, dass den Königlichen in ihrem Spiel das Königliche abgeht, begegnet er mit seinem so nonchalanten Charme: "Manche Klubs wollen schön spielen, manche wollen Titel gewinnen", sagte er vor wenigen Wochen. Und er musste nicht hinzufügen, was Real Madrid will.
Und der nächste Titel winkt schon vorsichtig. Wieder ist es der Henkelpott. Es könnte Ancelottis vierter werden. Dieser Erfolg - man ahnt es - wäre historisch. In das Rückspiel gegen Guardiolas City geht Real mit einer 3:4-Hypothek aus dem Hinspiel. Dort war Manchester City die klare bessere Mannschaft, hatte phasenweise Fußball wie aus einem anderen Universum angeboten. City hatte Real im Würgegriff, am Boden. Aber nie vor dem K.o., es ist diese seltsame Aura der Madrilenen, die auch jetzt schon wieder ihre Kraft bündelt.
Quelle: ntv.de