Nicht nur Kahn huldigt BergerIhre "Weltklasse" sorgt für den Fußball-Moment des Jahres
Von Anja Rau
Ein Sprung, ein ausgestreckter Arm, eine Parade, die sich einbrennt ins kollektive Gedächtnis. Ann-Katrin Berger schafft im EM-Viertelfinale schier Unmögliches und sorgt so für den Fußball-Moment des Jahres.
"Ann-Katrin Berger! Ann-Katrin Berger!" Sprechchöre schallen am 19. Juli durch den St.-Jakob-Park in Basel. In der 103. Minute des EM-Viertelfinals gegen Frankreich müssen die Emotionen irgendwie kanalisiert werden. Die Aufregung, der Schock - kurz vor dem Herzinfarkt - entlädt sich bei den deutschen Fans in den Rufen für die Torhüterin des DFB-Teams. Sie hatte gerade die Hoffnung aufs Weiterkommen am Leben gehalten. Eine Hoffnung, die ihre Kapitänin fast zunichtegemacht hätte.
Janina Minge hatte eine französische Flanke so abgefälscht, dass der Ball eigentlich schon über Berger hinweg ins Tor geflogen war. Was dann folgte, hat sich in atemberaubender Geschwindigkeit ins kollektive Fußball-Gedächtnis eingebrannt. Millionenfach sind die Videos der Heldentat abgerufen worden.
Eine Parade, bei der Oliver Kahn ins Schwärmen gerät: "Für mich war das die Parade des Turniers. Der ist technisch und koordinativ schwer zu halten. Weil du rückwärts läufst, du musst die Flugbahn des Balles einschätzen. Musst dann noch rückwärts abspringen, was auch nicht einfach ist. Und musst dann den Ball ja noch vor der Linie bekommen", erklärte der Mann, der sich mit Paraden auskennt, bei Sky. "Das war Weltklasse."
Die "New York Times" schrieb: "Ihr linker Arm, ausgefahren in eine andere Dimension. Wie eine exquisite Zeitmaschine deutscher Ingenieurskunst." Stürmerin Klara Bühl sagte über ihre Torfrau: "Krass, unglaublich, Weltklasse." Und Ersatztorhüterin Ena Mahmutovic sagte: "Ich habe noch nie im Frauenfußball so eine krasse Parade gesehen."
Berger: "Reaktion und Instikt"
Lobeshymnen auf die Frau, die die Personifizierung von stoischer Ruhe ist. Zu viel wirklich Lebenswichtiges hat die 34-Jährige bereits erlebt, zweimal den Kampf gegen den Schilddrüsenkrebs gewonnen. Berger nämlich sagte, locker wie immer, nach dem Spiel zu uns Journalisten, die so gern wissen wollten, wie sie die Szene erlebt hat: "Es ist aus Reaktion und Instinkt passiert."
Mit etwas Abstand, Anfang August, hatte sie dann auch realisiert, dass ihr da etwas Großes gelungen war: Der Moment habe sich wie "eine gute Minute" angefühlt. "Zuerst wusste ich gar nicht, dass ich so hoch und so weit springen kann. Als meine Verteidigerin den Ball mit dem Kopf gespielt hat, dachte ich nur: 'Nein, wir können doch nicht so ausscheiden'", sagte Berger im Podcast "The Women's Game" von der amerikanischen Ex-Fußballerin Sam Mewis. Also habe sie "gedacht: 'Okay, wie weit kann mein Arm eigentlich nach hinten gehen?' Und irgendwie wurde er gefühlt immer länger und länger. Ich war echt überrascht von mir selbst."
Minge hatte sie vor die härteste Prüfung gestellt. "Ich wollte Anne Berger groß rausbringen …", sagt sie witzelnd im Interview mit dem Magazin "Mehr als ein Spiel", das sich ausschließlich dem EM-Viertelfinale widmet. "Nein. Im Ernst: Ich habe mir die Szene jetzt unfassbar oft angeschaut. Ich würde s in der gleichen Situation immer wieder so machen. Ich musste an diesen Ball doch ran, weil ich nicht wusste, wer in meinem Rücken steht. Natürlich wäre es unglücklich gewesen, wenn der Kopfball reingegangen wäre. Und wie viele andre, habe ich den Ball auch schon im Netz gesehen …"
Doch Berger griff eben in das Vorhersehbare ein: "Aber zum Glück gab es diese Wahnsinnsparade … Wahrscheinlich hätte auch außer Anne keine Torhüterin dieser Welt den Ball pariert. Aber die Szene hatte auch etwas Gutes. Denn spätestens danach wusste ich: 'Okay, wir schaffen das!'"
Berger hält und verwandelt Elfmeter
Dabei sprach so vieles gegen das DFB-Team. Mit Giulia Gwinn war die etatmäßige Kapitänin bereits früh im ersten EM-Spiel durch eine Knieverletzung ausgeschieden. Gegen Frankreich flog Innenverteidigerin Kathrin Hendrich bereits in der 13. Minute mit Rot vom Platz, weil sie in den Haaren von Griedge Mbock "hängen geblieben" war. Weil das Ganze im Strafraum passiert war, gab es auch noch einen Elfmeter für Frankreich, den Grace Geyoro verwandelte. Die DFB-Frauen mussten sich fortan in Unterzahl dem Rückstand entgegenstemmen. Sjoeke Nüsken gelang nur zehn Minuten später bereits der Ausgleich.
Und sie hatte in der 68. Minute auch noch die Führung auf dem Servierteller. Elfmeter. Verschossen. Das DFB-Team ackerte sich in die Verlängerung. Es kämpfte mit purem Willen, es stemmte sich gegen die spielerisch überlegenen Französinnen und dank der Jahrhundert-Parade von Berger bis ins Elfmeterschießen.
Und da wuchs die Torhüterin erneut über sich hinaus. Obwohl sie sich bei der Flugeinlage eine gute Viertelstunde zuvor leicht an der Schulter verletzt hatte. Aber egal. Nachdem Minge den ersten Elfmeter verwandelt, hält Berger den Versuch von Amel Majri fest. Und nachdem die extra fürs Elfmeterschießen eingewechselte Sara Däbritz verschießt, tritt Berger selbst als Schützin an. Und trifft. Eigentlich völlig klar, denn an diesem Abend war ja offensichtlich ausgeschlossen, dass ihr etwas nicht gelingen würde.
Weil Nüsken dann letztlich ihren zweiten Elfmeter an diesem Abend verwandelt, schaffen es die Deutschen ins Halbfinale. Mit unbändigem Willen, Teamzusammenhalt - und einer Flugeinlage, die niemand so schnell vergessen wird.