Eine Nation giert nach Erlösung Lionesses haben Englands Schicksal in der Hand
29.07.2022, 20:17 Uhr
Die Löwinnen brüllen.
(Foto: REUTERS)
Nach Jahren der Enttäuschung wähnen sich Englands Fußballerinnen bereit für den Titel. Im EM-Finale geht es ausgerechnet gegen den alten Rivalen Deutschland. Vor der Rekordkulisse von fast 90.000 Zuschauern im legendären Wembley-Stadion soll auch ein junger Fan helfen. Es gilt, ein Déjà-vu zu verhindern.
Mehr als 80.000 euphorisierte Anhänger lassen den Hexenkessel Wembley beben, Prinz William kündigt royale Unterstützung an - und Millionen Engländerinnen und Engländer fiebern vor den Fernsehern mit: Schier endlose 56 Jahre voller Schmerz sollen für das Mutterland des Fußballs am Sonntag endlich enden. "Das Schicksal ruft", titelte der "Daily Express" pathetisch. Ihr Team war furios durch die EM-Gruppenphase gestürmt, die sie mit 14:0 Toren abschlossen hatten. Nach dem Kraftakt gegen Spanien (2:1) spielte sich das Team von Sarina Wiegman im Halbfinale gegen Schweden (4:0) fast schon in einen Rausch - garniert von Alessia Russos Traumtor. Mit der Hacke spielte sie den Ball durch die Beine der schwedischen Torhüterin. So schön kann Fußball sein. Und so erfolgreich.
"Die Zeit ist reif", befand Ex-Nationalspielerin Karen Carney im "Mirror"-Interview. "Der nächste Schritt für uns ist, das Ding zu gewinnen." Dreimal hintereinander war England im Halbfinale gescheitert (EM 2012, WM 2015, EM 2017). Ähnlich wie bei den englischen Fußball-Männern schien man immer auf der Zielgeraden zu straucheln. Nun ist England seit 19 Spielen ungeschlagen. Auf der Insel ist man sich daher einig: Selten war die Chance für ein englisches Fußballteam - Frauen wie Männer - so groß, einen Titel zu holen. Doch die Spielerinnen blenden die Erwartungshaltung aus, vor dem Finale gegen Deutschland soll keine übermäßige Nervosität aufkommen.
Also bauen die Lionesses in ihrem Teamhotel Legofiguren, veranstalten Darts-Turniere oder spielen Verstecken. "Es tut gut, entspannt zu bleiben", sagte Mittelfeldspielerin Lauren Hemp und grinst. Auf ein Déjà-vu hat auf der Insel mal so gar keiner Lust - und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Da wäre zum einen das verlorene EM-Endspiel "at Home" der Three Lions gegen Italien im Vorjahr.
Unbedingt besser machen als die Männer
"Hoffentlich wird das Finale viel besser als das der Männer", so Wiegman mit einem kleinen Augenzwinkern. Die Aussage ließe sich über das Sportliche hinaus interpretieren. Denn das Endspiel im Vorjahr wurde von chaotischen und gewalttätigen Szenen am Einlass überschattet, Hunderte von Fans drangen ohne gültige Eintrittskarte in das Wembley-Stadion ein. Die Zahl an Sicherheitskräften werde am Sonntag (18 Uhr/ARD, DAZN und im ntv.de-Liveticker) "weit" über die Mindestanforderungen hinausgehen, betonte der Veranstalter. Es sei sichergestellt, dass jeder Besucher "ein sicheres und unvergessliches Erlebnis hat."
Dass die Lionesses schon vor dem Turnier als Titelanwärterinnen galten und dass Leistungsträgerinnen wie Beth Mead, Ellen White, Lucy Bronze oder Bayerns Neuzugang Georgia Stanway eine überragende EM spielen, ist in erster Linie Wiegman zu verdanken, die das Traineramt im September 2021 von dem etwas unglücklichen Phil Neville übernommen hat. "Von Anfang an hat es geklickt", sagte die Niederländerin, die mit ihrem Heimatland 2017 die EM gewann, im BBC-Interview. "Man fühlt eine Energie - und dass die Leute Vertrauen darin haben, wie wir arbeiten und spielen wollen. Das nehme ich nicht für selbstverständlich, aber man muss daran glauben, was man tut." Den Glauben haben inzwischen nicht nur Wiegman und ihre Spielerinnen, sondern die ganze Nation.
Die 52 Jahre alte Niederländerin, die bisher in jedes Spiel dieser EM mit derselben Aufstellung gegangen ist, hat das Team überall verbessert. Die Offensive ist kreativer, gedankenschneller und effizienter, das Mittelfeld stabiler und aggressiver, die Abwehr wirkt ruhiger und sicherer. Regelmäßig betont Wiegman, ihr Team sei auf alle Szenarien vorbereitet. Gegen Schweden sah man das. Die Engländerinnen taten sich anfangs schwer, fanden dann aber ihren Weg ins Spiel und dominierten den Gegner schließlich.
Die ganze Nation lechzt nach dem Titel
Unvergesslich wäre ein Triumph aus englischer Sicht ohnehin, die ganze Nation lechzt nach dem ersten Pokal seit dem Heim-WM-Coup der Männer im Jahr 1966. Die Frauen warten gar noch auf ihren ersten Titel überhaupt. Und dafür gilt es ein weiteres Déjà-vu zu vermeiden. Das letzte EM-Endspiel 2009 endete in einem Debakel - 2:6 hieß es am Ende gegen Rekordchampion Deutschland. Auch das letzte Duell beider Teams in Wembley endete bitter für die Lionesses, ein Treffer von Klara Bühl besiegelte in der 90. Minute die 1:2-Niederlage am 9. November 2019. Und trotz dieser Negativerlebnisse gehen sie nach ihren teils furiosen Leistungen als leichter Favorit ins Endspiel.
Und zum Finale haben die englischen Fußballerinnen ihren neuen Glücksbringer dabei. Die achtjährige Tess wurde über Nacht in England bekannt, als im Fernsehen zu sehen war, wie sie nach dem 4:0-Sieg der Lionesses im Halbfinale auf der Tribüne ausgelassen zu Neil Diamonds Gassenhauer "Sweet Caroline" tanzt. Ein kurzer Clip davon ging viral. Der Sender BBC lud die begeisterte Jungfußballerin daraufhin ins Wembley-Stadion ein. Ob die kleine Tess dort am Sonntag den ersten großen Erfolg der Lionesses miterlebt?
Quelle: ntv.de, tno/dpa/sid