Relegationserfolg gegen HSV Nach dem Urschrei beginnt Stuttgarts Rausch
02.06.2023, 09:34 Uhr
Der Auftakt zur Party.
(Foto: picture alliance/dpa)
Stuttgart jubelt, Hamburg blickt sorgenvoll aufs Rückspiel: Nicht einmal eine Minute nach Anpfiff beginnt in Stuttgart die Relegationsfeierei. Der VfB beantwortet in einem denkwürdigen Abend seine ganz eigene Mentalitätsfrage mit einem Blitz-Tor und einer Lehrstunde für den Hamburger SV.
Für diesen Moment wurde das Wort Urschrei erfunden. Um 20.46 Uhr in Bad Cannstatt, keine 46 Sekunden nach Anpfiff im Relegationsspiel gegen den HSV entlädt sich auf einen Schlag die aufgeladene Anspannung, die sich an diesem fiebrig heißen Frühsommertag in Stuttgart aufgestaut hatte. VfB-Abwehrrecke Konstantinos Mavropanos wuchtet einen Kopfball nach einem Eckball von Borna Sosa ins Tor - die Führung für Stuttgart und der Auftakt zur schwäbischen Freudennacht, die im 3:0-Hinspielerfolg endet und die Abstiegssorgen ein gutes Stück beiseite schiebt.
Noch bemerkenswerter machte diese laute Energie die Stille zuvor. Mit einer Schweigeminute gedachte der deutsche Fußball eines verstorbenen Jugendfußballers aus Berlin. Bei einem Nachwuchsturnier in Frankfurt war der Nachwuchsspieler am Pfingstsonntag mit Schlägen an Kopf und Hals niedergestreckt worden und am Mittwoch seinen schweren Verletzungen erlegen. Tiefe Stille legte sich über das ausverkaufte Stuttgarter Stadion mit den 47.500 Fans in Gedenken an den jungen Fußballer. Kurz darauf startete die Partie, es folgte der Cannstatter Urschrei. Die beiden Momente erinnerten daran, welche Energie und Emotionen ein Fußballstadion spürbar machen kann, in den Höhen und Tiefen.
Die Gäste aus Hamburg wirkten von dem Blitz-Gegentreffer nach der Ecke deutlich angeknockt. Viele Fans des HSV haben den Treffer wohl gar nicht gesehen, blau-schwarzer Rauch hing in den Anfangssekunden noch über dem Gästeblock, den einigen Anhänger zuvor gezündet hatte. Ähnlich vernebelt wirkte auch der Auftritt des HSV in den ersten Minuten.
Doch kein Mentalitätsproblem beim VfB?
Für die Hanseaten begann das Relegations-Drama, wie der letzte Zweiliga-Spieltag geendet hatte: mit einem brutalen Nackenschlag. Erst der Heidenheimer Nachspielzeit-Doppelpack im Fernduell mit Höhepunkt in der 99. Minute hatte den HSV in die Relegation geschickt und damit in diese Situation an diesem Donnerstagabend. HSV und Drama - es hat schon was von "Täglich grüßt das Murmeltier".
Angestachelt vom Führungstreffer und der Kulisse zeigten die Hausherren dem HSV gerade in der Anfangsviertelstunde ihre Grenzen auf. Das angekündigte offensive Mitspielen mit dem Bundesligisten blieb zunächst aus. Die Stuttgarter Chris Führich (9.) und Serhou Guirassy ließen beste Chancen liegen. Letzterer vergab freistehend aus bester Position (23.) und dann drei Minuten später auch einen Foulelfmeter, den er zu lässig ins rechte Eck schoss. HSV-Keeper Daniel Heuer Fernandes parierte und gab dem HSV die Chance, ins Spiel zurückzukommen. Allein: Er nahm die Einladung nicht an, auch wenn sich die Gäste Mitte der ersten Halbzeit stabilisierten und erste eigene Chance über Robert Glatzel erarbeiteten.
Das lag nicht nur an den Gästen: Fehlende Mentalität war an diesem Abend definitiv nicht das Problem des VfB. Ex-Profi und Ex-Coach Markus Babbel hatte genau das dem Team zuletzt vorgeworfen. Die M-Frage, die ansonsten gerne in Dortmund diskutiert wird, war nun also auch in Stuttgart angekommen. Und tatsächlich gab es darauf in der Vergangenheit auch keine eindeutige Antwort. Zwar holte der VfB in Spielen wie gegen Bochum und Mainz auswärts extrem wichtige Siege und drehte einen Rückstand, dafür ließ er sich bei immens wichtigen Spielen wie bei Schalke 04 und Hertha BSC im direkten Duell abkochen. Für die Relegation lautet die vorläufige Antwort: Die Mentalität ist da.
Serhou Guirassy erlebt besonderen Abend
Einer, ohne den der VfB wohl gar nicht erst die Chance hätte, den Klassenerhalt zu schaffen, ist Serhou Guirassy. Er wurde zu einer erst tragischen und dann doch erfolgreichen Figur des Abends. Am Vortag hatte der VfB die offizielle Verpflichtung des Angreifers offiziell gemacht. Bislang war er nur von Stade Rennes ausgeliehen, nun zogen die Stuttgarter die Kauf-Option für kolportierte 9 Millionen Euro. Der Mittelstürmer verlängerte ligaunabhängig - es war ein Zeichen an die Fans und ans Team, in dem er eine zentrale Rolle spielt. In dieser Saison erzielte er in 22 Spielen elf Tore und ist damit der torgefährlichste Mann in Reihen des VfB. Nicht aber in dieser ersten Halbzeit, bei der er zwei hundertprozentige Chancen vergab. Ausgerechnet er, ausgerechnet nach der offiziellen Verpflichtung.
"Ich war sehr froh, dass er noch getroffen hat", sagte VfB-Trainer Sebastian Hoeneß nach der Partie. "Das habe ich ihm auch gesagt." Der Coach lobte den 27-Jährigen dafür, wie er nach den Rückschlägen zurückgekommen ist. "Ich finde es erstaunlich, wie er damit umgegangen ist. Er hat für uns ein enorm wichtiges Tor gemacht. Das war nicht selbstverständlich." Gab es einen Psycho-Trick von Hoeneß? Nur zwei, drei Worte will der Trainer Guirassy auf den Weg zurück auf den Platz mitgegeben haben. "Was man halt so sagt - aber aus Überzeugung: Der nächste ist drin! Er wirkte nicht geknickt."
Die Kaltschnäuzigkeit, oder auch Mentalität, rief Guirassy dann nach dem Seitenwechsel prompt ab. Nach einer weiteren Ecke von Sosa, köpfte er den Ball diesmal unhaltbar für Heuer Fernandes ins Eck. Mit dem 3:0 setzte er an diesem Abend den Tor-Endpunkt.
Zuvor hatte ein anderer Stuttgarter Relegationsheld getroffen, wieder kurz nach dem Anpfiff. Ein erneuter Fall für "Ausgerechnet er". Josha Vagnoman ist ein echtes Hamburger Eigengewächs, lief von 2010 bis 2018 in der Jugend, dann im Profiteam auf, nur ausgebremst von verschiedenen Verletzungen. Im vergangenen Jahr spielte er noch mit dem HSV in der Relegation - und verlor gegen Hertha BSC (auf das 1:0 folgte eine 0:2-Pleite). Er kennt das bittere Gefühl, eine Relegation zu verspielen, nur zu gut. Diesmal hatte er Grund zu jubeln - tat es aber nicht. Nach einem gut herausgespielten Angriff über Führich, flankte Enzo Millot scharf, der 22-Jährige schob mit rechts ein und hob anschließend die Hände entschuldigend über seinen Kopf. Eine Geste, wie sie einst auch Mario Götze nach seinem ersten Bayern-Treffer gegen den BVB gemacht hatte. Ein Gruß an den Ex-Klub.
VfB-Sportdirektor mit Gänsehaut
Für den HSV kam es anschließend noch dicker. In der 69. Minute sah der kurz zuvor eingewechselte Anssi Suhonen nach einer Grätsche mit offener Sohle die Rote Karte. In Unterzahl forderten die Gäste den VfB nur wenig. Und wenn, dann war Torwart Florian Müller zur Stelle. Der Keeper war für Fabian Bredlow in die Startelf gerückt. Der Stammkeeper war nach einer Innenbanddehnung im Knie nicht rechtzeitig fit geworden. Erst leistete er sich früh in der Partie eine gravierende Ungenauigkeit, die eine Chance für Glatzel (35.) zufolge hatte, dann kam er besser ins Spiel und entschärfte einige HSV-Abschlüsse. Von Trainer Hoeneß gab es ein Sonderlob. "Er hat ein richtig gutes Spiel gemacht - aus der kalten Hose, das ist nicht unbedingt zu erwarten."
Und so war der VfB dem vierten Treffer meist näher als Hamburg dem ersten. Da war die Sonne, die den Tag über dem Talkessel namens Stuttgart gestanden hatte, schon untergangen. Dafür glühten in der zweiten Halbzeit nur noch durchgehend die Leuchtfeuer in der Cannstatter Kurve, die das Team weiter in Richtung viertes Tor pushte.
Für den VfB geht es in der Relegation um viel Geld, 40 Millionen Euro Umsatzeinbußen drohen im Falle eines dritten Abstiegs binnen sieben Jahre nach 2016 und 2019. Aber auch der HSV will mit aller Macht den fünften knappen verpatzen Nicht-Aufstieg in Serie vermeiden, giert nach dem Comeback in die Bundesliga. Es ist ein Duell der Ex-Fußball-Giganten, die ins Taumeln geraten sind. Der Vierte (VfB) der ewigen Bundesliga-Tabelle gegen den Sechsten (HSV). Die Ausgangslage für die Hamburger ist nun prekär, sie brauchen fast schon ein Wunder.
Ganz anders die Lage in Stuttgart: Mit der Drei-Tore-Führung haben sich die Schwaben eine hervorragende Position für das Rückspiel erarbeitet, das am Montagabend in Hamburg steigt. VfB-Sportdirektor Fabian Wohlgemuth warnt dennoch: "Es können drei, vier lange Tage werden", sagte er mit Blick auf das Programm bis Montag. "Nur noch ein Spiel klingt wie: bald Urlaub." Die Gefahr sieht er im vollen Stadion im Norden. "Der HSV wird sich nicht kampflos ergeben, sie werden von der 1. Minute auf den Führungstreffer gehen, dann wird's wacklig für uns." Damit ist er sich mit HSV-Coach Tim Walter, den er aus alten Kiel-Zeiten gut kennt, einig. Auf die Frage, was ihm Hoffnung für das Rückspiel mache, antwortete der sichtlich bediente Coach kurz und bündig: "der Volkspark."
Angesprochen auf die eigenen Fans, die mit dem Urschrei um 20.46 Uhr das Spektakel eingeleitet hatten, huschte VfB-Sportdirektor Wohlgemuth ein Lächeln übers Gesicht. "Ich hatte Gänsehaut heute", sagte er. Nur beim Einlaufen? "Das ganze Spiel über."
Quelle: ntv.de