Fußball

DFB-Team testet mit Baustellen Nagelsmanns Rücksichtslosigkeit knallt in die Realität

Nachdenklich.

Nachdenklich.

(Foto: picture alliance/dpa)

Es ist nicht mehr lange bis zur Heim-EM. Gegen Frankreich und die Niederlande wird es für das DFB-Team nun auch sportlich relevant, die Vorarbeit ist geleistet. Bundestrainer Julian Nagelsmann verspürt keinen Druck, denn am Ende ist es "nur Fußball".

Es braucht gar nicht viel Fantasie, denn der Presseraum des Groupama-Stadions im französischen Lyon gleicht ohnehin einem Hörsaal. Auf der kleinen Tribüne klemmen sich die Journalistinnen und Journalisten hinter die kleinen hellbraunen Klapptische. Vorne, auf dem Podium, sitzen Bundestrainer Julian Nagelsmann und DFB-Kapitän İlkay Gündoğan. Vor dem ersten Testspiel des EM-Jahres gegen Frankreich (21 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) referieren sie über Rückkehrer Toni Kroos, über die französische Fußball-Nationalmannschaft und das Leben.

Besonders Julian Nagelsmann macht das. Denn der Druck, der auf dem DFB-Team lastet, komme vor allem von außen. Intern versucht man, die Dinge möglichst einfach zu halten. "Wir kicken", das ist die Überschrift, die er über das Spiel gesetzt hat. "Es gibt das Leben", er malt mit den Händen einen Kreis in die Luft, "und einen ganz kleinen Teil Fußball." Es könne sein, "dass Dinge negativ laufen", erklärt Nagelsmann. Doch es sei weder Politik noch Personalentscheidungen im Großkonzern. Sondern einfach nur Fußball. Nagelsmann mache sich nicht verrückt, wegen Druck, den er bei einer Sache verspüren soll, die er macht, seit er drei Jahre alt ist. "Das passt für mich nicht zusammen."

Die spontane Lektion über das Leben und Druck kommt nicht von ungefähr. In weniger als drei Monaten beginnt die Europameisterschaft im eigenen Land. Und der bisherige sportliche Zustand der Nationalmannschaft lud bislang nicht zu sonderlich viel Euphorie ein. Dabei soll das Turnier eigentlich zum Sommermärchen 2.0 werden. EM-Chef Philipp Lahm wird nicht müde zu betonen, dass es nicht nur um Sport geht, sondern auch um Demokratie und Zusammenhalt. In diese Gemengelage fallen die beiden Testspiele gegen Frankreich und die Niederlande (Dienstag, 21 Uhr/RTL und im ntv.de-Liveticker).

Der Nike-Deal

Nagelsmann und der DFB hatten bis jetzt eigentlich Besonderes geschafft. Trotz der vergangenen drei Krisenturniere, trotz des miserablen Länderspieljahres 2023, das seinen Tiefpunkt in der ersten Bundestrainer-Entlassung in der Geschichte des DFB fand und mit den Niederlagen gegen die Türkei und Österreich endete: Aus der zuletzt arg kriselnden Fußball-Nationalelf sprießt tatsächlich ein ganz zärtliches Pflänzchen der Aufbruchsstimmung.

Nur musste das zuletzt wieder seine Widerstandsfähigkeiten beweisen. Zum einen, weil plötzlich öffentliche Debatten um die Zukunft von Bundestrainer Nagelsmann begannen. Zum anderen, weil der DFB am Donnerstagabend überraschend mitteilte, die 70-jährige Zusammenarbeit mit Adidas zu beenden. Stattdessen geht es ab 2027 mit dem US-Sportausrüster Nike weiter. Der Deal erscheint wirtschaftlich gesehen logisch. Der größte deutsche Sportverband ist eben klamm und Berichten zufolge bot Nike deutlich mehr als Adidas. Überraschend ist eher der Zeitpunkt der Verkündung, so kurz vor der Heim-EM, bei der die DFB-Elf ihr Quartier am Adidas-Hauptsitz in Herzogenaurach aufschlägt. Wo es beim DFB an allen Ecken und Enden wackelt und klappert.

Es ist erneut unnötige Unruhe, die von außen an die DFB-Elf herangetragen wird. Dabei ist die das wichtigste Teil für eine erfolgreiche Heim-EM. Passt sie in das große "Sommermärchen 2.0"-Puzzle? Kann die zarte Aufbruchstimmung bestätigt werden? Oder verfällt die Nationalelf in die gleiche Lethargie, die sie schon seit 2018 nicht aus den Knochen bekommt? Die DFB-Elf steht vor einer großen, fast schon mächtigen Chance: Klappen die beiden Testspiele gegen Frankreich und die Niederlande, dann könnten die ganzen Misserfolge der jüngeren Zeit vergessen sein. Sie könnten der Startschuss zu einem rauschenden Fußballfest werden.

Eine clevere Strategie

Dabei hatten Nagelsmann und der DFB den Boden, auf dem die Aufbruchsstimmung gedeihen konnte, in aufwendiger Kleinstarbeit bearbeitet. Es begann schon im vergangenen Dezember, als der Bundestrainer eine Audienz im ZDF-"Sportstudio" gab. Es war ein cleverer Schachzug: In einer Schnellfragerunde deutete er eine Kroos-Rückkehr an. Aus dem "interessanten Gedanken" entwickelten sich in der öffentlichen Debatte Fragen wie: "Wo soll Kroos spielen? Wer muss dafür zuschauen?" Plötzlich waren diese Überlegungen der Kern vieler Nationalelf-Debatten.

Die Gerüchte um den 34 Jahre alten Dirigenten von Real Madrid waren jedoch nur der Anfang. Die Medienoffensive nahm danach Fahrt auf. Ende Februar verkündete Kroos per Instagram seine Rückkehr. Nagelsmann kommunizierte weiter offen und erklärte die Entscheidung in einem großen Interview mit dem "Spiegel", es entstand ein beeindruckendes Gespräch. Der Bundestrainer sprach über Selbstzweifel (hat er nicht), Einwürfe (darauf achtet er etwa, wenn er ein Spiel beobachtet) und den Suizid seines Vaters, der beim Geheimdienst arbeitete.

Und so ging es weiter. Im März rückte die erste Kaderbekanntgabe des Jahres näher. Erneut wurde es ungewöhnlich und clever: Denn als der DFB die Pressemitteilung verschickte, war alles schon bekannt. Und die Personaldebatten öffentlich schon durchverhandelt: die Nicht-Nominierung des BVB-Blocks, die Berufung des Stuttgart-Quartetts. Dass der wiedererstarkte Leon Goretzka die ersten Länderspiele des Jahres vor dem Fernseher verfolgen wird, dass der Bayern-Youngster Aleksander Pavlovic seine erste Chance bekommen sollte. Und: Auch, dass der 1. FC Heidenheim mit Jan-Niklas Beste den ersten deutschen Nationalspieler seiner Geschichte bekommen sollte (der aber verletzt vorzeitig abreisen musste).

Den Kader radikal umgebaut

Es entstand etwas lang nicht gekanntes: Plötzlich gab es Debatten über das DFB-Team, die tatsächlich spannend sind. Und der Verband half mit: Am Tag der Kaderbekanntgabe präsentierte der DFB gemeinsam mit Adidas die neuen Trikots. Die Heimvariante ist Weiß und, zur Überraschung aller, leuchtet die Auswärtsvariante in einem Pink-Lila. Die Aufregung war groß, Ausrüster und Verband fingen die Kritik mit erfrischender Selbstironie und einer starken Kampagne wieder auf.

Doch all das war nur Vorlauf. Nun wird es sportlich. Denn es ist mittlerweile 124 Tage her, dass das DFB-Team überhaupt das letzte Mal gespielt hat. Der letzte Sieg war das Nagelsmann-Debüt gegen die USA, im Oktober. Und nun stehen gleich zwei richtige Härtetests auf dem Plan. Mit Frankreich und den Niederlanden warten zwei Gegner, die es in sich haben. Ohnehin: Anders als noch 2023 bleiben nicht mehr viele Ausflüchte und Alternativen übrig.

Bundestrainer Nagelsmann hat die entscheidenden Pflöcke eingeschlagen. Der Kader, selbstverständlich noch nicht das EM-Aufgebot, ist erneut das Produkt eines Umbruchs. Der Trainer, der ursprünglich nur das Turnier sportlich verantworten sollte, konnte so radikal wie bislang keiner seiner jüngeren Vorgänger sein. Seit 2018, allerspätestens 2022, braucht das Team einen Neuanfang. Joachim Löw missglückte der Umbruch, Hansi Flick verlor sich irgendwann in Experimenten. Nagelsmann brach, auch mangels Alternativen, stattdessen mit den lange sicher geglaubten DFB-Gewissheiten: Niemand bekommt ein EM-Ticket, nur weil er schon mal eins hatte.

Nicht nur das. Nagelsmann baute auch das Mittelfeld um. Mit Kroos übernimmt wieder die Weltmeister-Generation. Damit ist auch die Zeit, in der Leon Goretzka und Joshua Kimmich die Anker des deutschen Fußballs waren, erst einmal beendet. Wie bei Real Madrid soll Kroos als Verbindungsstück zwischen Angriff und Verteidigung funktionieren, ihm steht jeweils ein Vertreter beider Abteilungen zur Seite: Kapitän İlkay Gündoğan und Arbeiter Robert Andrich.

Darüber hinaus hält ein klares Rollenprinzip Einzug: Es gibt künftig 13 Stammkräfte, dahinter warten neun bis zehn Herausforderer. Was das bedeutet, zeigt sich exemplarisch in der Innenverteidigung. Für Nagelsmann sind Antonio Rüdiger und Leverkusens Jonathan Tah gesetzt. Für den Dortmunder Mats Hummels bedeutet das: Trotz seiner starken Champions-League-Saison bekommt er keine Nominierung. Denn es ist unwahrscheinlich, dass sich ein Weltmeister mit Hummels' Erfahrung mit einer Herausforderer-Rolle zufriedengibt. Also fährt stattdessen Herausforderer Robin Koch von Eintracht Frankfurt mit.

"Das Messgerät halten wir in der Hand"

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All das Theoretische, das Nagelsmann sich ausgedacht hat, kommt nun erstmals auf den Prüfstand. Wenn es ganz schlimm läuft, könnte das zarte Pflänzchen der Aufbruchsstimmung wieder eingehen. Dabei kommt es gar nicht unbedingt auf die Ergebnisse an. Vielmehr auf die Art und Weise: Welcher DFB-Star wirft wie viel in die Waagschale? Mit seinem Kader hat Nagelsmann schon mal die Weichen gestellt: Für die vielen Neulinge ist es das Größte, das Trikot zu tragen, das bis 2027 noch drei Streifen hat. Es muss nun nur auch funktionieren.

Und was, wenn es nicht klappt? Auch diese Frage geistert durch den Hörsaal im Groupama-Stadion. Am Ende ist es nur Fußball, sagt Bundestrainer Nagelsmann. "Wir versuchen zu gewinnen", erklärt er, "und wenn nicht, dann treten wir am Dienstag wieder an, um zu gewinnen. Und wenn wir da gewinnen, dann freuen wir uns und wenn wir nicht gewinnen, dann treten wir im Mai und Juni wieder an. Und am Ende müssen wir uns an der EM messen lassen, aber das Messgerät halten wir in der Hand."

Quelle: ntv.de

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