Die DFB-Elf ist plötzlich stark Ob Joachim Löw sich manchmal wundert?
09.09.2021, 08:15 Uhr
Nein, es war auch in den vergangenen Jahren nicht alles schlecht unter dem Bundestrainer Joachim Löw. Aber es war eben auch selten richtig gut. Das hat sich plötzlich geändert. Wie beim FC Bayern tritt Hansi Flick nun auch beim DFB in neuer Rolle als Blitzheiler auf.
Eine Sache gilt es schnell zu klären: Dass eine deutsche Nationalmannschaft Spiele gewinnt, das ist keine neue, keine exklusive Geschichte. Auch unter dem Bundestrainer Joachim Löw gab es bis zu dessem Ende regelmäßig (kleinere) Erfolge. Bei der Europameisterschaft in diesem Sommer etwa. Da wurde Portugal mit dem zigfachen Weltfußballer Cristiano Ronaldo mit 4:2 hergespielt. Das war ein letzter größerer Moment der Ära von Löw. Auch gegen Ungarn gab es im letzten Gruppenspiel ein Erfolgserlebnis. Das 2:2 war wie ein Sieg, bedeutete schließlich den Einzug in die Knockout-Runde, dort war dann aber gegen England (im Achtelfinale) direkt Schluss. Das Spiel gegen Ungarn war indes nicht sonderlich beeindruckend, sondern bleibt vermutlich lediglich in Erinnerung, weil Leon Goretzka den Hass der rechtsextremen "Carpathian Brigade" mit all seiner Herzensliebe weggejubelt hatte.
Nun hat sich die Lage beim DFB-Team aber dennoch verändert. Und das in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Kaum ist der alte Bundestrainer weg und der neue Mann da, sind Leistung und Stimmung plötzlich in ganz anderen Sphären. Zwar reicht die Leistung gegen Island (4:0) vor sehr glücklichen und zahlreiche Klassiker der internationalen Musik-Szene singenden Fans vermutlich noch nicht, um im kommenden Jahr Weihnachts-Weltmeister zu werden und die Stimmung des nationalen Kollektivs ist auch noch nicht auf Sommermärchen-Temperatur, aber zumindest sind die Lethargie (auf dem Platz) und das Miesepetrige (auf den Tribünen) verschwunden. Das sind zwei Nachrichten, die Anfang September nicht unbedingt zu erwarten waren. Aber gut, der Herr Flick, der kann es offenbar.
Wie schon beim FC Bayern hat er einem sportlichen Patienten die Hand aufgelegt und ihn mit seiner wohlig-warmen Art kuriert. Zwar sagt Herr Flick über sich selbst, dass er nicht nur nett ist, sondern einer Mannschaft auch mal sehr deutlich klarmachen kann, wenn ihm was nicht gefällt. Aber man wird den Eindruck nicht los, dass selbst "Deutlichmachen" bei Bammentaler noch immer eine sehr seriöse Form der Höflichkeit ist. Bei einem Louis van Gaal etwa, der gerade die Niederländer wieder wettkampftauglich macht, kann man sich das eher nicht vorstellen. Aber gut, es sind halt andere Typen. Und der DFB hat offenbar mit seiner Entscheidung in der Post-Löw-Frage alles richtig gemacht. Das kann der Verband ja sonst nicht für sich beanspruchen. Noch immer ist das Chaos an der Spitze ungelöst. Eine gute Nachricht: Zumindest aktuell ist es ruhig und nicht schmutzig.
Flick sieht noch Optimierungsbedarf
Tore: 0:1 Gnabry (4., nach Videobeweis), 0:2 Rüdiger (24.), 0:3 Sane (56.), 0:4 Werner (89., nach Videobeweis)
Island: Halldorsson - Saevarsson, Brynjar Ingi Bjarnason, Fjoluson, Skulason - Birkir Bjarnason, Palsson (89. Baldursson), Johannesson (71. Sigurdsson)- Johann Gudmundsson, Albert Gudmundsson (80. Gudjohnsen), Helgason; Trainer: Vidarsson
Deutschland: Neuer - Hofmann (46. Klostermann), Süle (60. Gosens), Rüdiger, Kehrer - Kimmich, Goretzka (80. Wirtz) - Gnabry (46. Havertz), Gündogan, Sané (60. Musiala) - Werner; Trainer: Flick
Schiedsrichter: Andreas Ekberg (Schweden)
Zuschauer: 3600 (ausverkauft)
Auf dem Feld ist dagegen alles in bester Ordnung. Auch, wenn Flick das ein wenig anders sieht. Ein paar Dinge möchte der Bundestrainer noch korrigiert wissen. Nun wäre es ja auch schlimm, ganz besonders für Löw, wenn nach zehn Tagen "Bundes-Hansi" alles perfekt wäre. Etwas größeren Bedarf zur Optimierung sieht der 56-Jährige "in der Präzision beim letzten Pass, in der Entschlossenheit vor dem Tor, um in voller Überzeugung zum Abschluss zu kommen." Das gilt besonders für Timo Werner, der gegen Island zwei ziemlich mächtige Chancen ungenutzt ließ und beim Treffer zum 4:0 reichlich Glück hatte. Die Stürmerfrage, sie wird den DFB-Cheftrainer weiter beschäftigen. Trotz der starken Entwicklung eines Karim Adeyemi, der gegen Armenien beim Debüt direkt getroffen hatte.
Tatsächlich wirken die Probleme der Nationalmannschaft plötzlich wie Luxusprobleme. Ob Löw sich wohl manchmal darüber wundert? Während seiner Zeit wirkten die Dinge groß, manchmal übergroß. Die Offensive, die sich mit Tiefe und Dynamik so schwertat. Das Mittelfeld, in dem so viel Geschiebe war, aber so wenig Kreativität. Die Defensive, die oft so schlecht eingespielt wirkte und anfällig war. Die Kommunikation, die als Schweigen der Männer durchging. Und das Selbstvertrauen der Mannschaft, das oft wegbrach, wenn es kleinere Rückschläge gab. Gegen Island folgte auf eine kleine Schwächephase direkt das 2:0. Flick hat für alles bereits eine Lösung gefunden. Vielleicht nicht immer die perfekte. Aber immer eine, die sich stabilisierend und gewinnbringend antreibend auf die Mannschaft auswirkte. Die markanteste Veränderung ist freilich die Beförderung von Kimmich zum Mittelfeldchef. Die Sache mit dem Rechtsverteidiger ist endgültig durch. Auch wenn die Alternativen nicht so schlecht sind, wie gedacht: Thilo Kehrer, Jonas Hofmann, Lukas Klostermann und natürlich Ridle Baku, auch wenn der gegen Island nicht im Kader war.
Nun ist diese Entwicklung dennoch sehr erstaunlich: Flick hat taktisch zwar eine kleine Revolution ausgerufen und vertraut seinem aggressiven Erfolgssystem, das ihm beim FC Bayern einst sieben Titel beschert hatte. Aber personell hat der Bundestrainer Deutschland ja nicht neu erfunden. Lediglich das Nominierungscharakteristikum: "Alter schützt vor Leistung nicht", wurde von ihm wieder hoch priorisiert. Es ist nun Leitkriterium. Bedeutet also: Thomas Müller und Mats Hummels werden wohl weiter dabei sein. Marco Reus sowieso. Und womöglich auch Jérôme Boateng, der ja mit Olympique Lyon einen neuen Klub gefunden hat. Beim Abwehrhünen wird indes wohl einiges davon abhängen, wie der Prozess um Vorfälle in seinem Privatleben ausgeht, der an diesem Donnerstag beginnt.
Idee mit Buttgereit zahlt sich aus
Nun, Siege hat es immer gegeben. Schön waren sie eher selten. Noch seltener wurden sie zuletzt bejubelt. Zu sehr hatte die Nation nach den vielen Debakeln mit dem Weltmeister gebrochen. Zu sehr hatte sich der Verband dem fatalen Irrglauben hingegeben, dass mit Löw noch mal alles gut und erfolgreich werden könnte. Die dunklen Wolken, sie hingen so schwer und tief, dass man die Sonne mindestens vermisst, manchmal sogar verloren glaubte. Löw konnte der Mannschaft keine Idee, keine Vision mehr geben. Das ist nun anders. Nach zehn Tagen Flick sind mehr als nur zarte erste Strahlen zu erkennen. Drei Spiele, drei Siege, neun Punkte für Katar. Dazu furiose Halbzeiten gegen Armenien und Island (gegen Liechtenstein zum Auftakt eher nicht) und tolle Tore. Darunter sogar eine einstudierte Freistoßvariante bei Antonio Rüdigers 2:0 in Reykjavik. Unter Löw hatte es so was selten bis nie gegeben. Ihm waren solche Dinge nicht sonderlich wichtig. Anders als Flick. Er machte sie beim WM-Triumph 2014 als Co-Trainer schon zum Thema. Und nun als Chef erneut. Die Idee mit Standard-Trainer Mads Buttgereit hat sich also schon ausgezahlt.
Aber eine Sache trübt den späten Super-Sommer noch ein ganz wenig ein. Die ersten drei Gegner waren lockere Auftaktübungen auf dem Weg in die Weltspitze. Ein Top-Beleg für das, was das DFB-Team auf höchstem Niveau bereits wieder leisten kann, steht noch aus. Und in diesem Jahr auch nicht mehr an. Die Gegner bis zum Jahresausklang heißen: Rumänien, Nordmazedonien und dann erneut Liechtenstein und Armenien.
Quelle: ntv.de