Der Final-Einzug im Schnellcheck Überraschend viel Stress für den FC Bayern
20.08.2020, 00:12 Uhr
Der Moment, in dem sich der FC Bayern das Champions-League-Halbfinale zurück erobert: Serge Gnabry schickt den Ball zum 1:0 in Richtung Winkel.
(Foto: SVEN SIMON/ Frank Hoermann/ Pool )
Diesmal ist es kein aberwitziges Spektakel, aber wer will sich denn beschweren? Der FC Bayern steht im Finale der Champions League und zeigt gegen Olympique Lyon, dass die Mannschaft selbst heftigen Stress mit gnadenloser Effizienz kontern kann.
Was ist im Estadio José Alvalade passiert?
Natürlich, nach dem 8:2 des FC Bayern gegen den zur Zwergenhaftigkeit geschrumpften FC Barcelona hatten sie alle gewarnt: Lyon habe gezeigt, "dass man diese Mannschaft auf keinen Fall unterschätzen darf" (Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge). "Ich denke, dass Lyon ein starkes Team ist", war sich Serge Gnabry sicher und - natürlich - warnte: "Nun sind wir der Favorit und müssen aufpassen." Cheftrainer Hansi Flick beließ es dabei, dass man sich auf die außerordentlichen defensiven und offensiven Qualitäten Lyons "gut einstellen" müsse. Und Corentin Tolisso, 2017 aus Lyon zum FC Bayern gewechselt, versicherte: "Zu keinem Zeitpunkt werden wir diese Mannschaft unterschätzen."
Im Vorfeld war Lyon gerühmt worden für die ungeheuer kompakte Defensive, mit "vielen Leuten hinter dem Ball", wie Flick analysiert hatte. Die schnellen Stürmer hatte man auf dem Zettel, die aus Umschaltaktionen schnell in Richtung gegnerisches Tor kommen. Alles war bekannt, der Respekt zumindest nach außen da. Und was passierte? Der FC Bayern läuft gerade zu Beginn voll in die Umschaltmomente Lyons rein - und hat in der Anfangsphase enorm Glück, nicht in Rückstand geraten zu sein. Gegen PSG, das die Geschwindigkeit Lyons mit einer vielfach höheren individuellen Klasse kombiniert, hätte es heute wohl nach 15 Minuten 0:2 gestanden.
Aber gut, es kann nicht jeden Tag Spektakel sein, es muss auch mal mit individueller Klasse gehen. Serge Gnabry hat sich gekümmert und mit einer Galavorstellung das Spiel entschieden. Mit Entschlossenheit, Dynamik, Glanz und Effizienz. Der menschgewordene FC Bayern des Jahres 2020. Will der nun sechsmalige Champions-League-Finalist am Sonntag PSG beikommen, muss er geschlossen wieder mehr Serge Gnabry sein.
Den Spielbericht gibt's hier.
Teams und Tore:
Olympique Lyon: Lopes - Denayer, Marcelo, Marcal (73. Cherki) - Dubois (67. Reine-Adelaide), Bruno Guimaraes (46. Mendes), Cornet - Caqueret, Aouar - Depay (58. Dembele), Toko Ekambi (67. Tete). - Trainer: Garcia
FC Bayern München: Neuer - Kimmich, Jerome Boateng (46. Süle), Alaba, Davies - Thiago (82. Tolisso), Goretzka (82. Pavard) - Thomas Müller - Gnabry (75. Coutinho), Lewandowski, Perisic (63. Coman). - Trainer: Flick
Schiedsrichter: Antonio Mateu Lahoz (Spanien) Tore: 0:1 Gnabry (18.), 0:2 Gnabry (33.), 0:3 Lewandowski (88.) Zuschauer: keine (in Lissabon)
Gelbe Karten: Marcelo (4), Marcal (3), Mendes (2)
Der Münchener Stresstest im Spielfilm:
4. Minute: Genau das darf aus Sicht des FC Bayern nicht passieren: Die Franzosen erarbeiten sich einen Ballgewinn im Mittelfeld, spielen einen schnellen Pass nach vorne und Memphis Depay macht sich auf den Weg. Der Niederländer wird von Manuel Neuer beinahe an der Strafraumgrenze empfangen, wird dann leicht abgedrängt - und trifft nur das Außennetz.
11. Minute: Erste richtig gute Chance für den FC Bayern - und das war klasse gespielt. Leon Goretzka spielt den Doppelpass mit Robert Lewandowski und wenn es andersrum gewesen wäre, würde es hier 1:0 stehen. So aber kommt Goretzka zum Abschluss, trifft den Ball nicht richtig und es bleibt vorerst torlos.
13. Minute: Und für einen Augenblick befinden wir uns wieder im Jahre 2014: Cornet setzt sich über links durch, gibt flach nach innen - und Jerome Boateng heldengrätscht den Ball vor dem einschussbereiten Toko Ekambi aus der Gefahrenzone. Der FC Bayern erlebt hier gerade die stressigsten Minuten seines gesamten bisherigen Lissabon-Aufenthaltes.
17. Minute: Pfosten! Toko Ekambi überläuft den schlecht postierten Alphonso Davies - und trifft aus kurzer Distanz den Pfosten. Das ist genau die Situation, die das Viererketten-Personal des FC Bayern vermeiden muss.
18. Minute: TOOOOOOOOOOOOOOOOOR für den FC Bayern München. Und da ist die Führung für den FC Bayern. Und selten hatte sich eine Bayern-Führung weniger angekündigt. Gnabry zieht von der rechten Außenlinie parallel zum Strafraum nach innen und haut den Ball völlig humorlos in den Winkel. Das sah aus wie auf der Konsole. Tolle Aktion des Nationalspielers.
26. Minute: Wieder Gnabry von der Strafraumkante, diesmal flach - und Lopes lässt nach vorne abklatschen. Da steht aber kein Roter. Vorher kam schon Müller nach einer schönen Freistoßvariante aussichtsreich zum Abschluss, brachte aber wie vorher schon Goretzka aus fast identischer Position nur ein Kullerbällchen zustande. Hätte der FC Bayern einen Torjäger vorne drin, würde es hier 3:0 stehen.
29. Minute: Die Wildheit ist aus dem Spiel gewichen - und das ist vor allem das Verdienst des FC Bayern. Der Barca-Schreck ist klarer in den Aktionen geworden und hat jetzt mehr Spielkontrolle. Der Stress ist etwas weg.
33. Minute: TOOOOOOOOOOOOOOOOOR für den FC Bayern München. Und jetzt geht hier alles seinen geregelten Gang: Gnabry spielt Ivan Perisic auf der linken Seite frei, der kroatische Nationalspieler spielt den Ball flach nach innen und Robert Lewandowski tut etwas, was Robert Lewandowski normalerweise nicht tut: Der Pole scheitert aus kürzester Distanz. Als hätte man ihm die Beine verknotet. Und so muss Gnabry übernehmen und den Ball über die Linie drücken. Bis vor zwei Minuten hätte man noch gesagt: Lewandowski hätte den mit verknoteten Beinen gemacht.
38. Minute: Was Gnabry abliefert, ist große Klasse. Jetzt schnibbelt der Doppeltorschütze eine Flanke auf den langen Pfosten. Da steht Lewandowski. Und normalerweise erreicht er diesen Ball mit verknoteten Beinen. In dieser eigenartigen ersten Halbzeit aber verpasst er. Und irgendwo, vielleicht auf einer Yacht im Mittelmeer, wächst die Hoffnung von Cristiano Ronaldo, seinen Champions-League-Torrekord aus der Saison 2013/14 behalten zu dürfen. Da traf der Portugie 17-mal. Lewandowski kämpft derzeit um Treffer Nummer 15.
Halbzeit: Der FC Bayern hat länger Stress, als gewohnt: Olympique Lyon hätte hier gut und gerne in Führung gehen können, die Franzosen begannen enorm aggressiv, der deutsche Meister fahrig und unsouverän. Nach dem 1:0 aber hat sich der Bundesligist die Sicherheit zurückerarbeitet und ließ immer weniger Umschaltmomente zu. Die Sache könnte hier schon entschieden sein.
46. Minute: Weiter geht es - und wie: Für Jerome Boateng darf jetzt Niklas Süle verteidigen. Wir erinnern uns: Der hat eine lange Verletzungspause hinter sich, das Vertrauen in den Innenverteidiger ist offenbar so vollständig wieder hergestellt wie dessen arg geschundenes linkes Knie.
50. Minute: Das hätte doch die Entscheidung sein müssen. Perisic läuft alleine auf Lopes zu, seinem Abschluss fehlt aber die Entschlossenheit, die er in den Schuss zum 2:1 gegen Barcelona gelegt hat.
57. Minute: Durchatmen beim FC Bayern. Gerade hatte Lyon den Super-Joker Moussa Dembélé eingewechselt, der zweimal gegen Manchester City getroffen hatte, da wird es schon gefährlich. Aber es ist nicht der Eingewechselte, sondern Toko Ekambi, der nach einem Ballverlust von Süle frei vor Neuer auftaucht. Glück für den FC Bayern, dass der so breit ist.
60. Minute: Und auf einmal schwimmt die rote Abwehr: Lyon presst jetzt höher, dem Bundesligisten fehlt gerade die Präzision, um sich nachhaltig zu befreien. Jetzt wird es wieder stressig. Toko Ekambi macht aus sehr viel wieder sehr wenig.
68. Minute: Robert Lewandowski wird hier doch wohl nicht wirklich leer ausgehen? Müller bedient seinen Torjäger (a.D.) auf Müller-Art, irgendwie ungelenk aber effektiv, der Pole bekommt aber keinen Druck auf den Ball. Das Warten auf den 15. Treffer lässt noch auf sich warten. Aber wenn er dann eben erst am Sonntag fällt, wäre sicher keiner der Teamkollegen böse.
80. Minute: Der eingewechselte Coutinho versenkt den Ball, stand aber deutlich im Abseits, als Goretzka einen gechippten Müller-Pass mit der Hacke verlängert hatte. Schade, der wäre wohl auch ohne die Goretzka-Einlage durchgerutscht, dann wäre der Sack hier endgültig zu.
88. Minute: TOOOOOOOOOOOOOOOOOR für den FC Bayern München. Na also. Irgendwo in einer sehr teuren Umgebung steigt wieder die Nervosität, denn Cristiano Ronaldo muss wieder stärker um seinen Rekord zittern. Denn: Robert Lewandowski trifft zum 3:0. Nicht mit den Füßen, die wollten heute einfach nicht so, wie sie sollten. Nein, der Toptorjäger köpft aus kurzer Distanz einen Kimmich-Freistoß ein.
Schluss: Und dann ist Schluss, der Triple-Traum lebt weiter. Dank einer in der ersten Halbzeit überragenden Leistung des Doppel-Torschützen Serge Gnabry und eines Manuel Neuer, der dann bärenstark hielt, als es darauf ankam. Gegen PSG wird das im Finale allerdings nicht reichen. Aber wie haben die 8:2-Gala-Bayern heute selbst gemerkt? Jedes Spiel ist ein neues Spiel, Vorleistungen zählen nicht mehr.
Was war gut?
Der FC Bayern München steht im Finale der Champions League. Das kann weder Juventus Turin mit Superstar Ronaldo und ganz großen Zielen von sich behaupten, noch Manchester City, jenes ungeheuer teure Hochklasseensemble mit den noch größeren Ansprüchen. Beide scheiterten an Olympique Lyon. Und wo sich beide Mitfavoriten an den Franzosen die Zähne ausgebissen hatten, ist der klare Erfolg des Bundesligisten nicht zu unterschätzen. Die wackelige Anfangsphase konterte der Bundesligist mit individueller Klasse und erarbeitete sich nach dem 1:0 die Spielkontrolle und die Sicherheit wieder zurück. Schon vor der Pause hätten Müller und Lewandowski erhöhen können.
Die Bayern entschieden das Spiel diesmal über individuelle Klasse, über das "Besser sein" der Einzelspieler. Ein glänzend aufgelegter Serge Gnabry und ein in den Schlüsselmomenten aufmerksamer, präsenter Manuel Neuer - Juventus und Manchester City haben die beiden gefehlt.
Wie sagte Manuel Neuer hinterher? "Ein 3:0 in einem Halbfinale der Champions League ist ein wunderbares Ergebnis."
Was war schlecht?
"Wir fangen wieder bei Null an", hatte Flick unmittelbar vor dem Anpfiff im TV-Sender Sky gewarnt und verraten, dass er mit dem Training am Vortag "nicht ganz so zufrieden" gewesen sei. Und dann geht es doch beinahe schief: Über die Anfangsphase, als Lyon zu oft gefährlich vors Münchner Tor gekommen war, wird zu reden sein. Zum zweiten Mal muss in Lissabon der Pfosten einen Rückstand verhindern: Gegen Barcelona hätte Lionel Messi beinahe das 2:1 erzielt, gegen Lyon ließ Toko Ekambi das Aluminium erzittern,
Die Analyse wird den Blick der Viererkette noch einmal schärfen, denn bei allem Respekt: Memphis Depay und Karl Toko Ekambi sind nicht Kylian Mbappé und Neymar Jr..
Auch, als das Spiel längst in Richtung des Bundesligisten gekippt war, produzierte die Bayern-Defensive immer wieder Fehler. Mehrmals musste Manuel Neuer Unkonzentriertheiten, Stellungsfehler oder andere unglückliche Aktionen seiner Vorderleute reparieren. Und wieder agierte die Viererkette bisweilen arg wild in der Raumdeckung. Gegen einen schwachen, wenig präsenten FC Barcelona wurden diese Schreckmomente einfach weggewirbelt, gegen Lyon blieben sie folgenlos, weil die Angreifer nicht an die Weltklasse Neuers heranreichten.
"Unterm Strich war´s verdient, aber am Anfang hätte es auch in die andere Richtung gehen können", sagte Joshua Kimmich hinterher bei Sky und fasste damit gut die Schwierigkeit dieses Spiels zusammen. Die Souveränität war weg. So kennt man den FC Bayern nicht.
Hansi Flick wird vorbereitet sein: "Wir wissen, dass Paris sehr schnelle Spieler hat. Da müssen wir schauen, dass wir die Defensive etwas anders organisieren. Letztlich ist es unsere große Stärke, dass wir den Gegner unter Druck setzen. Ich denke, das wird uns gegen Paris auch gelingen. Wenn wir frühe Ballgewinne haben, ist das eine große Stärke von uns. Wir wissen, dass wir damit manchmal hohes Risiko gehen. Heute haben wir das in der ersten Phase teilweise schlecht verteidigt. Wir hatten auch einige leichtfertige Ballverluste, die müssen wir abstellen."
Und was sagen die Finalisten?
Hansi Flick (Trainer Bayern München):"Wir wussten, dass es ein schweres Spiel wird. Lyon hat in den Spielen zuvor gute Leistungen gezeigt. Wie schwer es ist gegen eine so laufstarke Mannschaft, die defensiv taktisch hervorragend spielt und dir offensiv immer wieder weh tun kann, haben wir gerade in der ersten Phase des Spiels gesehen. Die haben wir auch mit Glück überstanden. Serge hat uns mit einer Einzelleistung in Führung gebracht. Das hat uns Sicherheit gebracht."
Doppeltorschütze Serge Gnabry: "Lyon hat sehr viel Druck auf uns gemacht und ist mit schnellen Leuten hinter die Kette gekommen. Sie hatten auch einige Chancen. Wir hatten am Anfang ein bisschen Glück, aber dann haben wir gut reingefunden. Zur Halbzeit haben wir zum Glück 2:0 geführt, Lewy hat dann noch das 3:0 nachgelegt." In der Anfangsphase sei Lyon "sehr aggressiv" gewesen. "Man hat gemerkt, dass sie gewinnen wollen. Sie sind nicht lässig ins Spiel reingegangen. Die Läufe hinter die Kette waren sehr gut. Man kann nicht immer alles verteidigen. Im Großen und Ganzen sind wir hinten immer sehr stark, vorne natürlich auch."
Manuel Neuer: "Wir waren aggressiv - ähnlich wie Lyon auch. Wir hatten am Anfang etwas Glück, dass wir nicht in Rückstand geraten. Dann haben wir unsere Klasse gezeigt, Lyon immer unter Druck gesetzt und durch hohe Balleroberungen gute Akzente gesetzt. Wir hatten auch Glück, dass das Tor von Serge zur richtigen Zeit kam."
Zu den Schreckmomenten in der Defensive: Das ist ein Halbfinale und Lyon ist ein Klassegegner. Sie haben im Mittelfeld die nötige Aggressivität mitgebracht. Das hat es für uns schwierig gemacht. Gerade weil das eine Mannschaft ist, die bissig ist und die Zweikämpfe unbedingt führen und gewinnen will. Es war im Mittelfeld ein richtiges Duell und vorne haben sie schnelle Spieler. Die können einem auch mal weh tun. In der Anfangsphase haben wir etwas Glück gehabt. Danach haben wir wenig zugelassen."
Joshua Kimmich: "Ich kann es gar nicht so erklären. Lyon stand ordentlich, hat uns aber nicht wirklich unter Druck gesetzt. Wir hatten am Anfang den einen oder anderen Ballverlust zu viel, obwohl wir eigentlich gar nicht so sehr unter Druck standen. So haben wir sie ins Spiel gebracht und sie dran glauben lassen. Zum Glück haben sie es vorm Tor nicht ausgenutzt. Mit den zwei Toren im Rücken hat es sich etwas einfacher gespielt. Unter dem Strich war es verdient, aber zu Beginn hätte es auch in die andere Richtung kippen können."
Der Tweet zum Spiel
(Serge Gnabry hatte zuvor in dieser Champions-League-Saison viermal gegen Tottenham Hotspur und zweimal gegen den FC Chelsea getroffen - beide Klubs sind in London beheimatet.)
Quelle: ntv.de