
Die Fans des FC St. Pauli huldigen Ewald Lienen und geben die Richtung vor: "Genau so!"
(Foto: picture alliance/dpa)
Am 31. Oktober 2023 beerdigt FIFA-Präsident Gianni Infantino endgültig die Fußball-Weltmeisterschaften alter Schule. Sie kommen nie mehr zurück. In Deutschland begeben sich die Fans des Spiels unterdessen auf eine Zeitreise, in der der Fußball vielleicht keine Gerechtigkeit, sondern nur Freude versprach.
Am Tag, an dem FIFA-Gott Gianni Infantino sich als Totengräber der alten Fußball-Weltmeisterschaften inszenierte und die WM 2034 kurzerhand per Instagram an Saudi-Arabien vergab, hatte sich der saarländische Viertligist FC 08 Homburg für sein Spiel in der zweiten Runde des DFB-Pokals die Retrotrikots rausgelegt. Die Mannschaft von Trainer Danny Schwarz lief mit Kondom-Werbung auf. Die hatte vor weit über drei Jahrzehnten den deutschen Fußball beinahe zum Erliegen gebracht.
Unvorstellbar in 2023, hatte der "London"-Schriftzug auf den Trikots des damaligen Erstligisten in der Saison 1987/1988 für einen handfesten Skandal gesorgt. Als nun "Billy Boy" auf den Ärmeln der Homburger warb, erinnerten sich die Fans an das Team des umtriebigen Präsidenten Manfred Ommer und die Trikots mit Homburg/Saar auf dem Rücken und den schwarzen Balken auf der Brust. Nostalgie wehte durch die Republik, die sich an den alten Fußball erinnerte und sich an ihn klammerte. Im Rückblick wirken Grenzverschiebungen selten bedrohlich.
Dabei ging es damals um "Ethik und Moral" im Fußball. Die nämlich, und nicht der DFB-Ligaausschuss, hatten die Werbung letztendlich verboten, zeigt ein Blick in das "Kicker"-Archiv, das am 25. April 1988 ebenfalls über vor "Freude wiehernden Fans" berichtet. Nicht weil Homburg den FC Schalke 04 mit 3:1 besiegt hatte, sondern weil der Stadionsprecher einen Witz gemacht hatte.
Magische Stadionnamen
Vielleicht wieherten die Fans auch am 31. Oktober 2023 vor Freude. Immerhin besiegten die Homburger den Zweitligisten Greuther Fürth mit 2:1 und zogen völlig überraschend in das Achtelfinale des DFB-Pokals ein. Die Sensation der von der "Bild" eilends "Billy Boys" getauften Homburger war an diesem für den Weltfußball so einschneidenden Tag jedoch nur eine der vielen Erinnerungen daran, wie der Fußball auch sein könnte.
Im Unterhachinger Sportpark, in dem einst Michael Ballacks den Mythos "Vizekusen" mit seinem Eigentor im letzten Spiel der Saison 1999/2000 begründete, wartete der Mannschaftsbus der Düsseldorfer in der zweiten Hälfte bereits deutlich sichtbar neben der Tribüne auf die mit 0:2 zurückliegenden Fortunen, die das vogelwilde Spiel später noch mit 6:3 für sich entschieden.
Auf der Bielefelder Alm vergab der ewige Armine Fabian Klos die große Chance auf die Pokalsensation gegen den Hamburger SV und hoch oben auf dem Betzenberg in Kaiserslautern fühlte sich Köln-Trainer Steffen Baumgart einfach "beschissen". Der Effzeh hatte sich vom Zweitligisten mit 3:2 abkochen lassen, auch weil Davie Selke das tat, was er so gerne macht - er irrlichterte über das Spielfeld und machte dabei trotzdem eine sympathische Figur.
Und überall regnet es
Noch weiter südlich wollte der famose Sky-Reporter Riccardo Basile von dem bemitleidenswerten Union-Kapitän Christopher Trimmel wissen, ob die elfte Pflichtspielniederlage in Folge schicksalspielhafte Züge für Urs Meier hatte. So wie es einige Medien zuvor angeblich berichtet hatten. Vielleicht hatten sie das auch, dabei aber über den Schweizer Trainer Urs Fischer geschrieben. Basile korrigierte sich, Trimmel schmunzelte kurz und Fischer sah nach Abpfiff die Rote Karte von Schiedsrichter Sascha Stegemann.
Dem 57-jährigen Fischer waren nach der erneuten Niederlage die Nerven durchgegangen. In der niedersächsischen Einöde am Mittellandkanal verabschiedete sich unterdessen der zweimalige Pokalsieger Rasenballsport Leipzig aus dem Wettbewerb. Zum ersten Mal seit dem Gewinn der Dortmunder im Sommer 2021 wird somit ein anderer Verein den DFB-Pokal gewinnen. Schalke 04 wird es nicht sein. Der Krisenzweitligist unterlag dem FC St. Pauli nach großem Kampf am Millerntor.
Das Plästern des Regens, der Grundton dieses ersten Abends der zweiten DFB-Pokal-Runde, verstärkte die Sehnsucht nach dem alten Fußball, der durch alle Stadien geweht war. Und diese Sehnsucht hatte einen auslösenden Faktor. Aus Kosten- und Personalgründen spart sich der DFB bis zum Achtelfinale den Gleichmacher des Fußballs, den VAR. Jede einmal getroffene Entscheidung war an diesem Dienstag somit eine Entscheidung und nicht nur eine Handlungsempfehlung für etwaige Besuche am VAR-Monitor an der Mittellinie. Noch am Wochenende hatte der VAR Fans, Funktionäre und Spieler gleichermaßen verzweifeln lassen. Wie jedes Wochenende.
Der VAR verachtet die Stadionbesucher
Im Internet hatten sich die beiden Bundesligisten Eintracht Frankfurt und Borussia Dortmund zu einem Wettstreit hinreißen lassen, in dem es ausschließlich darum ging, welcher Klub von dem hinreißend schwachen Hauptschiedsrichter Robert Schröder mehr und deutlicher benachteiligt wurde. Frankfurt-Boss Axel Hellmann hatte nach dem Spiel seine Stimme in das Meer jener geschmissen, die in dem Videoschiedsrichter das Grundübel des Fußballs sehen.
Hellmann, der der Deutschen Fußball-Liga bis zum Sommer vorstand, war damit nicht allein und er war beileibe auch nicht der erste Funktionär in dieser Saison, der diese Forderung erhoben hatte. In der Liga zeigt man sich zunehmend genervt von dem VAR. Mal ist das an den Mikrofonen zu hören und mal in Gesprächen mit den Akteuren. "Wahnsinn in fast jedem Spiel", wetterte der für seine markigen Worte bekannte Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe an diesem Wochenende.
Die Woche für Woche von Schiedsrichter-Sprechern korrigierten Fehler des ursprünglich als Fehlervernichters angepriesenen Systems rund um den Kölner Keller zehren an den Nerven aller. Nicht, weil sie gemacht werden, sondern weil sie in einem System gemacht werden, das mit der falschen Verlockung von mehr Gerechtigkeit eingeführt wurde und den Fußball mindestens als Stadionsport in seinem Fundament erschüttert hat. Niemand kann dort noch irgendwas nachvollziehen. Eine App, hieß es in diesem Monat, soll das in Zukunft ändern. Eine unglaubliche Überlegung, die die Aufmerksamkeit noch mehr vom Spielfeld lenken würde.
Was unter dem Deckmantel von mehr Gerechtigkeit eingeführt wurde, ist durch fehlende Transparenz, durch ständige wechselnden Regelauslegungen und minutenlange Spielunterbrechungen von immer schwächer werdenden und von der Technik abhängigen Schiedsrichtern längst zu einer Farce verkommen.
All das scherte die Besucher der Spiele der zweiten Runde im DFB-Pokal an diesem Dienstag nicht. Da konnte auch der skrupellose FIFA-Präsident Gianni Infantino mit seinem von langer Hand geplanten Coup nicht dazwischenfunken. Auf den wohl schönsten Wettbewerb im Klubfußball können sich die Anhänger des alten Spiels immer noch einigen. Lang lebe der DFB-Pokal!
Quelle: ntv.de