Fußball

Kölner Warnungen fatal ignoriert Wie es zur Gewaltexplosion von Nizza kommen konnte

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Der 1. FC Köln ist wieder auf der europäischen Bühne. Doch das Conference-Auswärtsspiel bei OGC Nizza wird von schockierenden Krawallen auf den Tribünen überschattet. Augenzeugenberichte werfen drängende Fragen an die Verantwortlichen des Sicherheitskonzepts auf.

Der 1. FC Köln spielt wieder europäisch. Doch das erste Auswärtsspiel der Conference League bei OGC Nizza (1:1) wird nicht schon sportlichen Schlagzeilen bestimmt, sondern von schockierenden Krawallen auf den Tribünen überschattet. Es herrschte nackte Gewalt zwischen den Lagern beider Vereine, ein Mann stürzte von der Tribüne, insgesamt 32 Menschen wurden verletzt. Für den 1. FC Köln kann der Vorfall gravierende Folgen haben. Die von Hass und Lust an Gewalt enthemmten Randalierer, die Zahlen schwanken zwischen 50 und 150, hätten nicht nur "für viele Tausend das Erlebnis mehr oder weniger kaputt" gemacht, sondern auch "für Konsequenzen" gesorgt, "die wir jetzt noch gar nicht absehen können", zitierte der "Express" den Kölner Geschäftsführer Christian Keller.

Positiv war für ihn das Verhalten des großen Teils der friedlichen Fans. "Über 7900 der 8000 haben sich korrekt verhalten", sagte er: "Ich habe gehört, wie 7900 gesungen haben: Wir sind Kölner und ihr nicht. Das ist gelebte Zivilcourage. Oder wenn ich Videos sehe, auf denen richtige Fans versuchen, den anderen die Sturmkappen wegzuziehen - das ist Zivilcourage. Davon brauchen wir mehr. Und da muss der Klub vorangehen." Die Kölner schauen, was von der UEFA jetzt kommt. Eine erste Konsequenz ist schon bekannt. "Wir wissen mittlerweile, dass das Spiel am kommenden Donnerstag zum Risikospiel hochgestuft wurde", sagt Keller. Dann bestreiten die Kölner ihr zweites Gruppenspiel, es geht gegen den 1. FC Slovacko aus Tschechien.

Knapp 8000 Fans des "Effzeh" waren nach Nizza gereist, in Scharen von einem friedlichen Fan-Fest in der Innenstadt entlang der schönen Côte d'Azur zum Stade de Nice marschiert und wurden in der Arena schließlich Zeuge von brutalen Tribünenkämpfen. Anhänger des Bundesligisten waren über die Ränge in Richtung der Heimfans gestürmt, ehe beide Lager mit Fäusten und Gegenständen hemmungslos aufeinander eingeprügelten. Die Situation war am Abend unübersichtlich, aber nach und nach fügen sich die Puzzleteile zusammen. Es sind Aussagen von Offiziellen, Augenzeugenberichte, Videos und Hintergründe zur eskalierten Gewalt am Mittelmeer.

Ein Akt der Rache?

Bei dem Angriff der Vermummten im Stadion soll es sich um eine Art Racheaktion der Kölner für Attacken der OGC-Anhänger vor dem Stadion gehandelt haben. Eine Anfrage unserer Redaktion bei den lokalen Polizeibehörden blieb bislang unbeantwortet. Aber die Schuldfrage ist nicht unbedingt die entscheidende. Denn Augenzeugenberichte legen nahe, dass die Sicherheitskräfte die Brisanz der Partie massiv unterschätzt haben. Die beiden Journalisten Roland Peters (ntv.de) und Tim Plachner ("Siegener Zeitung"), die als Fans vor Ort waren, berichten von einer totalen Überforderung der Ordner. "Wir standen zwei Stunden vor Anpfiff vor geschlossenen Stahltoren, hinter uns wurden immer mehr Fans versammelt", berichtet Plachner, der als einer der ersten am Stadion war.

Zunächst ging alles den gewohnten Gang. Abtasten vor der Arena, warten auf die Ticket-Kontrolle. Aber in der Menge baute sich ein gigantischer Druck auf. "Die Sicherheitskräfte konnten irgendwann nur noch weichen", sagt Plachner. Mehr oder weniger ungehindert gelangten die Kölner daraufhin auf die Ränge. Roland Peters war im hinteren Teil der Menge. Von Sicherheits- und Ticketkontrollen bekam er nichts mehr mit. Man konnte einfach hineinspazieren. Auch Heike Bellinghausen vom Fanprojekt 1. FC Köln 1991 e.V. liegen entsprechende Berichte vor, wie sie gegenüber ntv.de bestätigt. Sie hat ihren Verein um vollständige Aufklärung gebeten. "Wir sind absolut entsetzt von den Vorfällen." Entsprechende Anfragen an die lokalen Behörden und den OGC Nizza blieben bislang ebenfalls unbeantwortet.

Zwar haben die Effzeh-Anhänger europaweit oft für eine fantastische Atmosphäre bei Auswärtsspielen gesorgt, aber es gab auch hin und wieder Ausschreitungen. Etwa in der bislang letzten Saison auf europäischer Ebene vor fünf Jahren, bei Auswärtsspielen in London und Belgrad. Ob und welche Strafe die UEFA als oberster Wettbewerbshüter verhängt, ist noch offen. Keller glaubt: "Wenn du einmal Blödsinn gemacht hast, stehst du eher unter Beobachtung."

Baumgart: "Das war einfach nur nackte Gewalt"

Trainer Steffen Baumgart, der in Nizza eine Sperre absitzen musste und daher auf der Tribüne und nicht bei seiner Mannschaft war, war ebenfalls schwer geschockt von den Szenen: "Ich halte mich nicht für den ängstlichsten Menschen. Aber das, was gestern passiert ist, wird mich sehr lange begleiten", sagte der 50-Jährige am Freitag. "Anfang der 90er war ich in der Bereitschaftspolizei. Und genau aus diesen Gründen bin ich aus der Polizei ausgestiegen: Weil ich sowas nicht machen wollte. Deshalb ist es für mich nicht einfach, damit umzugehen. Das war einfach nur nackte Gewalt. Das ist beängstigend, wenn man relativ dicht dran steht." Auch seine Familie saß auf den Sitzen, wo die brutalen Schläger vorbeigelaufen sind. "Da geht einiges in einem ab."

Wie der üblicherweise gut informierte "GEISSBLOG" berichtet, hatte der 1. FC Köln den Behörden und dem französischen Klub vorab übermittelt, dass man Sicherheitsbedenken habe. Näher ausgeführt wird das nicht. Aber diese fußten wohl auf der Rolle der Fans von Paris St. Germain. Während der Effzeh eine Freundschaft zum Hauptstadtverein pflegt, stehen sich die beiden französischen Rivalen in tiefer Abneigung bis zu offenem Hass gegenüber. In den brutalen Prügeleien sollen PSG-Anhänger am Donnerstagabend eine führende Rolle eingenommen haben. Auch der Mann, der die Tribüne hinabstürzte, wird dem Lager des Star-Teams zugerechnet. Zunächst hatte es geheißen, er seit absichtlich hinuntergestoßen worden. Twitter-Videos legen indes nahe, dass er bei der Flucht über die Sitzreihen der Ränge die Balance verloren hatte.

Am Tag danach bestätigte Keller die Meldung des "GEISSBLOG". "Wir haben darauf hingewiesen, dass wir ein deutlich höheres Polizeiaufkommen für angemessen erachten. Wir haben auch darauf hingewiesen, dass wir eine bessere Fantrennung für sehr sinnvoll und wichtig erachten", ergänzte Keller. "Weil bekannt ist, dass es rivalisierende Lager gibt und dass die verbotene Fangruppe von Paris St. Germain wahrscheinlich kommen wird und Probleme mit Nizza hat. Doch die Vorschläge wurden im Endeffekt größtenteils nicht angenommen." Auch die UEFA soll die französischen Verantwortlichen vor dem Risikopotenzial gewarnt haben.

PSG distanziert sich von aufgelöster Gruppe

Paris St. Germain hat die Ausschreitungen auf das Schärfste verurteilt. Seit mehr als einem Jahrzehnt sei Paris St. Germain einer der engagiertesten Vereine, um die Gewalt in den Fußballstadien auszumerzen, teilte PSG mit. "Der Verein möchte klarstellen, dass die Gruppe Supras Auteuil durch ein Dekret vom 29. April 2010 aufgelöst wurde, nicht als Fangruppe von Paris St. Germain anerkannt wird und keinen Zutritt zum Parc des Princes (Stadion von PSG, Anm. d. Red.) hat." Man prüfe nun, welche Maßnahmen er ergreifen könne, wenn der Ruf des Klubs durch die Ultra-Gruppierung geschädigt werden sollte.

Medienberichten zufolge sollen 650 Polizisten und 600 Sicherheitsleute im Einsatz gewesen sein. Zahlen, die Augenzeugen nicht bestätigen wollen. Auf dem Weg zum Stadion seien einige Beamte als Begleitung eingesetzt gewesen. Ebenso im Umfeld. Nicht aber im Stadion und auf den Tribünen. Was auch das Kölner Fanprojekt aus Gesprächen mit Anhängern vor Ort bestätigen kann, und "auch nicht in dem Maße, wie man das von Risiko- oder ähnlich eingeschätzten Spielen aus Deutschland gewohnt ist", sagt Peters. Was ihn indes noch mehr überraschte, dass es keine Blocktrennung gab. Die Krawallmacher konnten ihren Weg so völlig ungehindert gehen.

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Jene Polizisten, die im Einsatz waren, waren offenbar teilweise überfordert. So wie bei den mutmaßlichen Übergriffen der Nizza-Fans vor dem Anpfiff. Wie Peters aus einem Gespräch mit einem anderen Fan aus Köln berichtet, hätten die OGC-Chaoten vor dem Stadion wahllos losgeprügelt, die Beamten griffen indes nicht ein. "Die Polizei stand daneben und hat nichts gemacht, hat mir ins Gesicht gegrinst, als ich sie um Hilfe gebeten habe. Nie wieder auswärts nach Frankreich." Offiziell bestätigt, das betont auch Peters, sind die Vorfälle vor der Arena bislang nicht. Von den Behörden ist wenig bis gar nichts bekannt, aber es gibt Videos und Augenzeugenberichte.

Als besonders schockierend empfand Plachner derweil eine Szene, die Wut und offenen Hass der Angreifer unterstreicht. Auf ihrem Weg zur Heimtribüne rannten sie an einer Gruppe von Kindern vorbei, die völlig aufgeschreckt von ihren Plätzen flüchteten. Es gab keine Rücksicht auf niemanden. 32 Menschen wurden verletzt. Es war ein Abend, der noch nach lange nachwirken wird.

(Dieser Artikel wurde am Freitag, 09. September 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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