Fußball

1974 - die WM der Genies Wie Beckenbauer und Cruyff den Fußball revolutionierten

Beckenbauer, Cruyff und das WM-Finale.

Beckenbauer, Cruyff und das WM-Finale.

(Foto: imago/Sven Simon)

Als der "König" im März 2016 stirbt, twittert der "Kaiser": "Ich bin schockiert. Johan Cruyff war für mich nicht nur ein sehr guter Freund, sondern auch ein Bruder." Die beiden weltbesten Fußballer spielen 1974 in den Niederlanden und in Deutschland: Johan Cruyff und Franz Beckenbauer treffen im WM-Finale 1974 in München aufeinander. Es ist die "WM der Genies" und sie sind die Protagonisten in einer Welt, der das Fernsehen rund 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Farbe einhaucht und die im Umbruch ist.

Eine neue, selbstbewusste Generation erscheint auf der Bühne und fordert ihre Rechte ein. Schon vor dem Turnier feilscht die DFB-Elf um die Höhe der Siegprämie, die Politik hat den Fußball noch nicht entdeckt. Die Spieler drängen auf mehr Demokratie im Verband und mehr Modernität, beim DFB haben noch alte NSDAP-Mitglieder das Sagen. Als die Welt sich also verändert, wird Deutschland Weltmeister. Und Franz Beckenbauer stemmt den Pokal in die Höhe. Beinahe wäre es dazu aus mehreren Gründen nicht gekommen. Erst kurz vor Turnierbeginn einigen sich DFB und Nationalmannschaft auf die Höhe eventueller Prämien.

Hier setzt der Auszug aus dem Ende 2023 im Verlag Die Werkstatt erschienenen Buch "Die WM der Genies" von Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp ein:

Auch bei den Niederländern wird heftig über Geld gestritten. Und auch ihre Teilnahme gerät wenige Tage vor dem Anpfiff des Turniers in Gefahr. Der Amateurismus des Koninklijke Nederlandse Voetbal Bonds (KNVB) hat in der Nationalelf, der Elftal, seinen letzten Hort. Während bei den großen Klubs Ajax und Feyenoord längst der Professionalismus eingezogen ist, behandelt der Verband seine Nationalspieler unverändert wie Unmündige, die man nicht angemessen entlohnen muss.

Eine neue Generation entsteht

Lange Zeit kassierten die Spieler nur lächerliche 200 Gulden pro Einsatz und waren nicht einmal gegen die Folgen von Verletzungen versichert. Superstar Johan Cruyff und sein Schwiegervater und Berater Cor Coster schimpfen die Verbandsoberen "Amateure", die die Verantwortung dafür trügen, dass die Fußball-Weltmeisterschaft seit 1938 ohne die Niederlande stattfindet.

Zur Person

Dietrich Schulze-Marmeling, Jahrgang 1956, zählt zu den renommiertesten Fußballautoren deutscher Sprache. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter "Der gezähmte Fußball", Chroniken zu Bayern München und Borussia Dortmund sowie Werke über George Best, den FC Barcelona, Manchester United, Celtic Glasgow und den FC Liverpool. Schulze-Marmeling ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur und war Mit-Initiator von #BoycotQatar2022. Sein aktuelles Werk heißt: "1974: Die WM der Genies".

Der KNVB hat mit Adidas einen Trikotdeal abgeschlossen, von dem die Spieler erst erfahren, als sie das Kleidungsstück in die Hand gedrückt bekommen. Die Spieler, insbesondere Johan Cruyff, der bei Puma unter Vertrag steht, fühlen sich übergangen. Cruyff: "Sie dachten, sie müssten nicht mit uns reden, das Trikot würde ihnen gehören. Aber der Kopf, der oben herausschaut, gehört immer noch mir." Bei der WM wird Cruyff nicht wie seine Kollegen mit den berühmten drei Streifen auf dem Trikot auflaufen, sondern nur mit zwei.

Am 10. Juni 1974, zwei Tage vor der Abreise ins Mannschaftsquartier, erklärt Cruyff dem KNVB, dass die Mannschaft daheim bleiben würde, wenn die Prämien nicht deutlich erhöht werden. Das Angebot des Verbands sei lächerlich. Hastig sagt der Verband jedem Spieler rückwirkend Boni von bis zu 65.000 Gulden zu.

Die Generation Beckenbauer/Cruyff registriert den Unterschied zwischen Idealismus und Betrug, zwischen Ehre und Ausbeutung, zwischen Ehrlichkeit und Scheinheiligkeit. Als Cruyff in Verhandlungen von seinem Gegenüber belehrt wird, dass Geld doch gar nicht so wichtig sei, antwortet er in der ihm eigenen Schlagfertigkeit: Wenn Geld nicht wichtig sei, dann könne er ihm ja sein gesamtes Geld geben! Allein mit Parolen, die an Pflicht und Ehre appellieren, ist diese Generation nicht mehr zu packen. Es ist die erste Generation, die sich von dumpfen nationalen Ehrbegriffen löst - in Deutschland wie in den Niederlanden.

1963: Beckenbauer zur Persona non grata erklärt

Am 16. September 1965 feiert der erst seit wenigen Tagen 20-jährige Franz Beckenbauer sein Debüt im Nationaltrikot. Beckenbauer steht für eine Revolution auf dem Rasen: Der "letzte" Mann ist nun ein Spielgestalter, als "freier Mann, der wie ein General das Spiel lenkt", beschreibt der Journalist Thomas Hüetlin das Spiel des "Kaisers". Beckenbauer: "Ich wollte Einfluss nehmen auf das gesamte Spiel, abwehren, aufbauen, Tore schießen." Die DFB-Funktionäre hätten den Hochbegabten um ein Haar verschmäht.

Beckenbauer vor seinem Debüt in der Nationalmannschaft.

Beckenbauer vor seinem Debüt in der Nationalmannschaft.

(Foto: imago/Sven Simon)

Am 20. Oktober 1963 war der 18-jährige Beckenbauer Vater eines unehelichen Kindes geworden, weshalb ihn die Verbandsfunktionäre wegen seines "unmoralischen Lebenswandels" zur Persona non grata erklärten. Beckenbauer wurde aus dem Kader für ein Spiel der DFB-Jugendauswahl gestrichen, aber Dettmar Cramer, verantwortlich für den DFB-Nachwuchs, und Noch-Bundestrainer Sepp Herberger legten erfolgreich Einspruch ein.

Über sein Nationalmannschaftsdebüt am 16. September 1965 in Stockholm und seinen Vorgänger Fritz Walter, Kapitän der deutschen Nationalelf beim "Wunder von Bern" 1954, schreibt Beckenbauer später: "Ich merkte, dass wir doch ziemlich verschiedene Charaktere sind. Vielleicht ähnelte unsere Spielweise, unsere Technik einander; aber er besaß doch etwas von dem Mannschaftsgeist von 1954; er glaubte an Kameradschaft und Nationalehre. Für mich ist eine Fußballmannschaft eine Interessengemeinschaft. Titel sind dazu da, dass sie gewonnen werden. Das ist für mich nicht nur ein sportliches Ziel, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit."

Und über das Kabinenritual seiner älteren Kollegen im DFB-Dress: "War ich nun im Stockholmer Rasunda-Stadion, oder befand ich mich in einem Theater? Sollte anschließend Fußball gespielt werden, meinetwegen für Deutschland und den Botschafter, für Uwe und Schimmi, auch für Schön und Cramer, vor allem aber für mich, oder sollte ein Theater aufgeführt werden?"

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Breitner schimpft über störende Nationalhymne

Günter Netzer und Paul Breitner legen später nach. "Vergesst doch das ganze Getue mit den elf Freunden auf dem Fußballplatz, das ist doch Kokolores," höhnt Netzer und erklärt der Bild am Sonntag: "Kameradschaft - im Profi-Fußball gibt es die nicht mehr." Paul Breitner wird nicht weniger deutlich: "'Elf Freunde müsst ihr sein…' - ein Hirngespinst, vollkommener Blödsinn. Das ist ein Satz, der zu keiner Zeit seine Berechtigung hatte. Dieser Satz ist schlichtweg eine Lüge!"

Auf dem Platz spiele nun mal jeder für sich, auch in der Nationalmannschaft. Konsequenterweise sieht man beim Turnier keinen einzigen Spieler mitsingen, wenn vor dem Anpfiff die Nationalhymne intoniert wird. Man schaut gelangweilt bis gequält in die Gegend. Breitner schimpft sogar: "Diese Hymne vor den Länderspielen stört mich in der Konzentration!" Auch würde er sogar seinen Hintern vermarkten, wenn dies nötig wäre.

Die betont individualistische und hedonistische Haltung der Profis passt zur politischen Landschaft der Bundesrepublik, wo die erste Euphorie der sozialliberalen Reformpolitik einer gewissen Ernüchterung gewichen ist und statt des Visionärs Willy Brandt nun der "Macher" Helmut Schmidt regiert (den Fußball sowieso nicht interessierte). Aber in den Medien und bei den Zuschauern kommt diese Haltung nicht gut an.

Cruyff ist der perfekte Profi

Während in Deutschland Spieler wie Beckenbauer, Breitner, Hoeneß oder Netzer diesen Wandel personifizieren, ist es im Nachbarland vor allem Johan Cruyff. "Die Niederländer sind dann am besten, wenn sie System mit kreativem Individualismus kombinieren. Johan Cruyff ist der bedeutendste Repräsentant dieser Kombination. Er prägte das Land nach dem Krieg. Er war der Einzige, der die Sechzigerjahre wirklich verstand", schreibt Hubert Smeets, ehemaliger Chefredakteur der Wochenzeitschrift De Groene Amsterdamer. Arie Haan, Cruyffs Mitspieler bei Ajax und in der Elftal, ist dem "König" noch viele Jahre später dankbar:

"Unsere Generation hat 'Cruyffie', dem perfektesten Profi, alles zu verdanken. Er hat nicht nur den holländischen Fußball revolutioniert, sondern auch die Funktionärsmentalität verändert. Wir ernten heute täglich, was er durchsetzte."

Quelle: ntv.de

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