Fußball

"Dann ändere dein Denken" Wie Terzić für das BVB-"Wunder" Haller kämpfte

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Sébastien Haller ist Dortmunds größter Held in dieser Saison.

(Foto: IMAGO/Revierfoto)

Wenn Borussia Dortmund am Samstag tatsächlich die Schale in den Himmel recken sollte, dann ist das eine Erfolgsgeschichte mit vielen Helden. Ihr größter aber: Sébastien Haller. Der Franzose schreibt sein persönliches Märchen fort und Trainer Edin Terzić kann es kaum fassen.

Mitte der ersten Halbzeit des Spiels zwischen dem FC Augsburg und Borussia Dortmund beschwor Trainer Edin Terzić höhere Mächte. Seine Fußballer mühten sich gerade verzweifelt daran ab, die Steilvorlage des FC Bayern für sich zu nutzen und wieder die Tabellenführung in der Fußball-Bundesliga zu übernehmen. Sie wussten, dass ihnen mit einem Sieg die Meisterschale auf dem Silbertablett serviert werden würde. Sie rannten, sie schossen, sie haderten. Doch dann kam Sébastien Haller (58.). Er nutzte einen Stockfehler von Maximilian Bauer, drehte sich mit dem Ball blitzschnell um den Abwehrspieler und vollendete eiskalt. Sonntagabend, 18.48 Uhr, der BVB war Tabellenführer und Haller schrie alles aus sich heraus. Das Glück, das Leid, die Wut, die Erlösung.

Und das Märchen des ivorischen Nationalstürmers ist damit um ein weiteres wundervolles Kapitel fortgeschrieben. Nach einer unfassbaren Leidenszeit, nach einem erfolgreichen, aber anstrengenden Kampf gegen den Hodenkrebs, wird der 28-Jährige im Saisonendspurt mehr und mehr zum Gesicht der Unverwüstlichen aus Dortmund. Er ist das, was dem BVB in dieser Saison lange gefehlt hatte und dem FC Bayern immer mehr fehlt: eine echte Nummer neun. Ein Torjäger, eine Prellstation für die pfeilschnelle Offensive der Schwarzgelben um die sportlich Auferstandenen Donyell Malen und Karim Adeyemi. Und in Dortmund können sie noch gar nicht fassen, was da auf einer ganz anderen Ebene abseits der Meistereuphorie für eine wahnsinnige Geschichte erzählt wird. "Wenn mir vor sechs Monaten jemand gesagt hätte, dass ich heute in dieser Situation wäre, ich hätte es nicht geglaubt. Wir alle haben sehr viel investiert und jetzt die ganz große Chance, etwas ganz Großes zu erreichen", sagt der Stürmer selbst.

Terzić verteidigt Haller gegen Kritik

Haller war im Sommer der Rekordtransfer. Er kam ohnehin schon mit einer gigantischen Last auf seinen breiten Schultern. Haller sollte irgendwie vergessen machen, dass die Dortmunder den unaufhaltsamen Erling Haaland an Manchester City verloren hatten. 31 Millionen Euro ließ sich der BVB den Stürmer kosten, der einst bei Eintracht Frankfurt Anführer der mitreißenden Büffelherde war. Doch alle Hoffnungen auf eine zweite Erfolgsgeschichte in der Bundesliga wurden in Stücke gerissen, als Haller im Trainingslager die schockierende Diagnose bekam. Alles rund um seine Person wurde zur Nebensache, der BVB holte Anthony Modeste als Ersatz.

Ein Plan, der nicht aufging. Der Franzose fand nie zu seiner Torjäger-Form aus großartigen Tagen beim 1. FC Köln. Einzig das Siegtor bei Hertha BSC (1:0) und sein ganz später Treffer zum Ausgleich im Hinrunden-Duell gegen den FC Bayern (2:2) machen ihn zu einer wichtigen Erwähnung in der schwarzgelben Vereinschronik. Während der BVB immer mehr den Anschluss verlor, nur noch ein klappernder Riese war, der sich regelmäßig selbst die Knochen brach, kämpfte Haller mit dem Krebs, kämpfte mit den Folgen der Chemo. Erfolgreich. Als die WM in Katar vorbei war und in der Bundesliga wieder Alltag einkehrte, stand Haller wieder auf dem Rasen. Als Schatten seiner selbst. Er ackerte viel, meistens vergeblich. Aber Terzić hielt an ihm fest. Als Experten in Kolumnen und Stammtisch-Debatten nach Pausen schrien, nach Wechseln in der Startelf, setzte der Trainer weiter auf seinen Stürmer und veränderte dabei dessen Spielweise. Auf Kritik an Haller reagiert Terzić scharf, bisweilen sogar emotional.

"Er ist ein reines Wunder"

Still und heimlich ging das vonstatten, wurde nie ein Thema. Bis zu diesem Sonntag, als Haller den BVB endgültig zum Topfavoriten auf die Deutsche Meisterschaft 2023 gemacht hatte. Denn er hatte in der 84. Minute nachgelegt, die Nerven der Borussen beruhigt. Bloß nicht wieder auswärts patzen. Bloß nicht wieder bei einer Mannschaft aus dem Tabellenkeller blamieren. Die Dortmunder bestanden diese Feuertaufe, über die meiste Zeit famos und eben dank Haller. "Egal, was nächste Woche passiert, das größte Wunder ist, dass Seb diese Saison wieder bei uns ist. Er ist ein reines Wunder", sagte Terzić in seiner typischen Art, voller Pathos.

Doch es gab an diesem Abend auch noch einen anderen Terzić. Nämlich den emotionalen Analytiker. Als die Medienrunde in der Augsburger Arena schon fast zu Ende war, als noch eine Frage im Raum stand, die nämlich, wie der Trainer seinen Stürmer wieder in diese herausragende Form gebracht habe, da holte der 40-Jährige zu einem zweieinhalb Minuten andauernden Monolog aus. Ein verbales Konglomerat aus Bewunderung für den Spieler und Aufarbeitung der schwierigen Zeit. Sich von einem solch heftigen Rückschlag so zu erholen, das sei "ein Wunder", wiederholte er. Haller sei ein Spieler, der nicht nur auf der Anzeigetafel auftauche, sondern auch seine Mitspieler besser mache, sie "sie strahlen lasse", so Terzić. Dass Malen und Adeyemi in der Rückrunde in überragender Verfassung sind, sei auch, sei vor allem ein Verdienst von Haller.

"Alles hängt mit Haller zusammen"

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Ohne den Ivorer, der selbst mittlerweile bei neun Treffern steht, stand ihre Ausbeute bei null Toren. Inzwischen sind es ebenfalls neun bei Malen und sechs bei Adeyemi. Zwei andere Zahlen sind noch eindrücklicher: Bis zum 15. Spieltag, bis zur WM-Unterbrechung, hatte der BVB als Tabellensechster lediglich 25 Tore geschossen, gerade mal halb so viele wie der FC Bayern (49). Seit der Wiederaufnahme des Spielbetriebs sind es schon 61 (!). Keine Mannschaft ist hungriger. "Alles hängt mit Haller zusammen", lobte Terzić und blickte dann zurück.

"Niemand hatte Erfahrungen damit, wie es ist, einen Spieler nach der Krebserkrankung und der Chemotherapie zurückzubringen", sagte der Trainer. Es sei eine extrem "harte" Zeit gewesen. Man habe ständig im Austausch gestanden, wusste nicht, wie der Spieler auf Belastung reagiert, wie "erschöpft und müde" er ist. Und so habe man auch an der Spielweise des Stürmers gearbeitet. "Wir haben gesagt, Seb, wenn du dich nicht mehr so fühlst, wie vor zwei Jahren, nicht mehr die Geschwindigkeit in dir spürst, dann musst du dein Denken ändern. Du musst im Kopf schneller werden, wenn deine Beine nicht mehr so können." In zahlreichen Trainingseinheiten habe man mit Haller daran gearbeitet. "Und jetzt siehst du, wie wichtig er ist." Doch sein Auftrag ist noch nicht getan, einer steht noch aus: ein Sieg gegen den FSV Mainz 05. Und dann "hoffen wir, dass er der Held der Saison wird." Auf sportlicher Ebene. Auf anderer ist er es längst.

Quelle: ntv.de

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