"Raus heißt raus - und zwar schnell" Wie das Trotzspiel zum Schockspiel wurde
18.11.2015, 00:13 Uhr
Ein französischer Fan kann nicht fassen, was sich vier Tage nach den Terroranschlägen von Paris ereignet.
(Foto: picture alliance / dpa)
Zuschauer und Spieler wollen ein Zeichen gegen den Terror setzen. Dann droht ein Anschlag, das Stadion wird geräumt, das Spiel der DFB-Elf fällt aus. Ungute Erinnerungen setzen ein - an Paris.
"Wie, raus?" Hatten nicht alle vorher betont, wie sicher alles an diesem Abend sei, wie viele Polizisten aufpassen würden, dass nichts passiert? Doch der Mann mit der neongelben Weste sagt: "Raus heißt raus. Und zwar schleunigst." Das konnte nur heißen: Die Lage ist bedrohlich - vier Tage nach den Terroranschlägen von Paris drängt sich dieser Gedanke noch ein wenig stärker auf als normalerweise. Aber was ist in diesen Tagen schon normal? Eine Stunde zuvor hatte es an diesem Dienstagabend vor dem Stadion in Hannover noch einen Fehlalarm gegeben. Um kurz nach sieben wurde es dann ernst. Zuerst über Facebook ließ die Polizei verlauten: "Liebe Follower, das Spiel ist soeben abgesagt worden. Bitte begebt euch zügig, aber ohne Panik nach Hause." Die Ordner setzten diese Vorgabe um, ruhig, bestimmt - und ahnungslos: "Warum, wissen wir auch nicht."
Was zu diesem Zeitpunkt die Menschen, die sich ab viertel vor neun das Fußballspiel zwischen der deutschen Nationalmannschaft und der aus den Niederlanden anschauen wollten, nicht wissen konnten: Es gab konkrete Hinweise auf einen terroristischen Anschlag im Stadion. Und der Abend, der als Zeichen der Solidarität mit den Opfern von Paris und ihren Liebsten werden sollte, war zu Ende, bevor er begonnen hatte. 31.000 Karten hatte der DFB verkauft. Und wenn etwas gut war an diesem Abend, dann die Tatsache, dass sich zum Zeitpunkt der Absage noch nicht allzu viele von ihnen im und am Stadion befanden.
"Aber das hier - das pack ich nicht"
Vor der Arena stehen mehrere Dutzend Hostessen ohne Mantel, ohne Jacke. In ihren Kostümen sehen sie aus wie ein Chor, der gleich ein Konzert gibt. Gott sei Dank ist es mild an diesem tristen Novembertag in Hannover. Ein Kollege, der seinen Laptop im Stadion vergessen hat, fragt einen Beamten, ob er zurückgehen darf. Nein, das darf er nicht. Einige Meter weiter macht die Polizei freundlich, aber sehr ausdrücklich per Megafon klar: "Wir fordern alles Fußballfans auf, sich umgehend aus diesem Bereich zu entfernen." Mit Erfolg - alles geht ruhig und geordnet vonstatten. Sirenen ertönen, die Würstchenbuden schließen, schwarze Limousinen fahren zügig durch die Dunkelheit. Einige telefonieren, einige reden miteinander, andere reagieren nervös und fassungslos. Alle hasten.
Bettina, Hannoveranerin aus ganzem Herzen, wie sie betont, ist zum Stadion gekommen, "um dabei zu sein, Solidarität zu zeigen" und an der geplanten Lichterkette teilzunehmen. Eine Karte hatte sie nicht, "die war mir zu teuer. Aber das hier - das packe ich nicht. Das krieg ich nicht in meinen Kopf rein. Was ist nur los in meinem Hannover? Die Welt ist nicht mehr die, die sie mal war." Reinhard Rauball, einer der Interimspräsidenten des DFB, sollte später sagen: "Es ist ein trauriger Tag für Deutschland. Und es ist ein trauriger Tag für den deutschen Fußball."
Und alle, die am Freitag in Paris im Stade de France waren, plagen Erinnerungen, die mit ungut nur unzureichend beschrieben sind. Während die deutsche Mannschaft auf dem Weg zum Stadion wieder umkehrt, wie der DFB hinterher mitteilte, herrscht im Presseraum große Unruhe, als es heißt, dass das Spiel "wegen einer konkreten Gefährdungslage" abgesagt worden sei. Nein, normal war das alles nicht.
"You'll never walk alone"
Das zeigt sich bereits um 18 Uhr, knapp drei Stunden vor dem Anpfiff, zu dem es letztlich nie kommen sollte. Die Polizei findet an der Robert-Enke-Straße, direkt vor der Arena, einen Koffer - und macht die Zufahrten in einem Ring von einem Kilometer rund um das Stadion dicht. Ein Mann steht vor der Absperrung am Parkplatz auf dem Schützenplatz. Er schüttelt den Kopf. "Ich gehe seit 45 Jahren zum Fußball, in verschiedene Stadien. Aber das hier - das ist nicht mehr normal. Wir haben es ja gerade erst erlebt, was passieren kann. Das ist unfassbar. Das sind ja Sachen, die man nicht greifen kann." Nein, er sei nicht hektisch, erst recht nicht panisch. "Aber ich habe ein mulmiges Gefühl. Ich glaube, ich gehe nach Hause." Aus Barsinghausen sei er, dort wo die DFB-Elf ihr Quartier hatte, und hier zusammen mit seinen Kollegen aus dem Verein. "Als Dankeschön für alle ehrenamtlichen Helfer."
Und nun? "Ich hau' ab." Aus dem leeren Stadion schallt Musik herüber. "You’ll never walk alone." Und dann: die Marseillaise, die französische Nationalhymne. Die Stadionregie probt schon, wie sie es vor Länderspielen stets tut.
Doch dieses Spiel sollte ein besonderes werden, es sollte für Mitgefühl stehen, für Solidarität. Um Sport sollte es nicht einmal in zweiter Linie gehen. Wie auch, vier Tage nach den Anschlägen von Paris, bei denen Terroristen am Freitagabend an sechs Orten mindestens 129 Menschen abschlachteten? Bundestrainer Joachim Löw hatte dieses Freundschaftsspiel am Tag vor der Partie "als eine klare Botschaft, ein klares Symbol" bezeichnet. "Für die Freiheit und die Demokratie."
Vier Tage zuvor war er mit seiner Mannschaft in Paris, um im Stade de France gegen Frankreich zu spielen, ebenfalls in aller Freundschaft. Was folgte, war Horror. Für ihn, die Spieler und alle 70.000 Menschen, die im Pariser Vorort Saint-Denis ganz nah dran waren am Grauen - und doch alles Glück dieser Welt hatten, dass es drei Selbstmordattentätern nicht wie offenbar geplant gelang, sich im Stadion in die Luft zu sprengen.
Und nun? Zuschauer und Spieler, Bundeskanzlerin Angela Merkel und drei ihrer Minister, sie alle wollten in Hannover gemeinsam ein Zeichen gegen den Terror setzen, ihm trotzen. Sie wollten den banalen Akt eines Fußballspiels in eine Demonstration verwandeln. Sie wollten der Welt, sie wollten den Terroristen zeigen: Seht her, wir lassen uns nicht unterkriegen. Doch dann wurde aus diesem Abend der großen und kleinen Symbole ein Trauerspiel, der nächste Schockmoment. Am Ende hieß es nur noch: Alle raus. Die Lage ist ernst.
Quelle: ntv.de