"Collinas Erben" ziehen Bilanz Andreasen staunt, Schmadtke nervt
29.12.2015, 11:44 Uhr

Die Szene der Hinrunde: Hannovers Leon Andreasen drückt den Ball irregulär mit dem Arm über die Linie.
(Foto: imago/Eduard Bopp)
Ein irreguläres Tor, über das nicht mal der Schütze jubelt, eine Regeländerung, die sich als Bumerang erweist und ein Funktionär, der es mit der Schiri-Schelte übertreibt – "Collinas Erben" ziehen Bilanz. Ein Zwischenfazit in Superlativen.
Selbstkritik der Hinrunde: Wenn die Unparteiischen auf eine Saison oder ein Halbjahr zurückblicken, fällt die Bilanz normalerweise positiv aus. Doch diesmal ist das anders. "Wir Schiedsrichter können mit der Vorrunde insgesamt nicht zufrieden sein", räumte Herbert Fandel, der Vorsitzende der DFB-Schiedsrichter-Kommission, unumwunden ein. Es seien einfach zu viele schwerwiegende Fehler gemacht worden. In der Tat standen die Spielleiter weitaus häufiger in der Kritik, als ihnen lieb sein konnte: Der unberechtigte Elfmeter beispielsweise, der den Bayern in der Partie gegen den FC Augsburg kurz vor Schluss doch noch den Sieg ermöglichte, das nicht erkannte Hand-Tor des Hannoveraners Leon Andreasen im Spiel beim 1. FC Köln, der Abseitstreffer der Wolfsburger in der Begegnung gegen Bayer 04 Leverkusen – es gab eine ungewöhnliche Häufung gravierend falscher Pfiffe, die für eine Menge Ärger sorgte. Dass angesichts dessen "viele sehr gute Spielleitungen, insbesondere bei Spitzenspielen, zur Seite geschoben wurden", wie Fandel anmerkt, ist gleichwohl ebenfalls richtig. Zum Los der Schiedsrichter gehört es nach wie vor, dass über sie vor allem dann gesprochen wird, wenn sie etwas falsch machen.
Fehlentscheidung der Hinrunde: Als Leon Andreasen den Ball beim Spiel seiner Hannoveraner in Köln nach 38 Minuten aus kurzer Distanz mit dem rechten Oberarm ins Tor der Gastgeber beförderte, war er erkennbar selbst überrascht, dass der – letztlich spielentscheidende – Treffer anerkannt wurde. Denn der Däne verzichtete nicht nur auf jeglichen Jubel, er lief auch sogleich schnurstracks zu seinem Trainer an die Seitenlinie – wohl um sich zu erkundigen, ob er Schiedsrichter Bastian Dankert auf das Handspiel aufmerksam machen soll. Sowohl dem Unparteiischen als auch dem zuständigen Assistenten war im entscheidenden Moment die Sicht versperrt, deshalb blieb dem Gespann die Regelwidrigkeit verborgen. Doch nicht einmal Dankert selbst wollte das als Begründung für seinen Lapsus ins Feld führen: "Nach dem Studium der Bilder", gab er geknickt zu, "kann man eigentlich nur sagen, dass es auf diesem Niveau nicht passieren darf, so einen Fehler zu machen".
Ausnahmeregelung der Hinrunde: Wenn die Proteste rund um eine potenziell spielentscheidende Situation (Tor, Strafstoß, Platzverweis) deutlich über das Normalmaß hinausgehen und der Schiedsrichter gleichzeitig selbst Zweifel an seiner soeben getroffenen Entscheidung hat, kann er ausnahmsweise einen Spieler befragen. So steht es in der offiziellen "Schiedsrichter-Zeitung" des DFB geschrieben, die sich in ihrer aktuellen Ausgabe ausführlich mit Andreasens Hand-Tor beschäftigt und zu dem Schluss kommt, dass der Referee von der Möglichkeit dieser Befragung hätte Gebrauch machen sollen. Entscheidungen wie Eckstoß, Abstoß, Einwurf oder Abseits dagegen müsse der Unparteiische alleine fällen. "Da fragt man nicht nach", heißt es in der Zeitung. "Schon gar nicht, wenn es von einer Mannschaft gefordert wird. Das nimmt sonst kein Ende und untergräbt die Autorität." Eine dezente Ermahnung an die Schiedsrichter, von denen einige nach der Partie in Köln bisweilen ohne wirkliche Not bei Spielern nachhakten. Was sie aber wohl auch deshalb taten, weil ihr Kollege Dankert es zuvor unterlassen und sich dafür einen Rüffel von Hellmut Krug, Schiedsrichter-Manager bei der DFL, eingehandelt hatte.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Paukenschlag der Hinrunde: Nicht zuletzt das Hand-Tor von Köln hat bei der Schiedsrichter-Kommission des DFB ein Umdenken bewirkt. Deren Vorsitzender Herbert Fandel, der sich zuvor stets gegen den Videobeweis ausgesprochen hatte, kündigte nun an, sich für die Einführung dieses technischen Hilfsmittels stark zu machen, um Druck von den Referees zu nehmen und der Forderung der Klubs nach möglichst fehlerarmen Schiedsrichterleistungen entgegenzukommen. "Wenn die Medien die Arbeit der Unparteiischen bis ins kleinste Detail mit allen technischen Möglichkeiten analysieren, hinterfragen und kommentieren, ist der 'Mensch Schiedsrichter' – mit all seinen menschlichen Fehlern und Schwächen – wohl nicht mehr in der Lage, diesen Anspruch zu erfüllen", schrieb er in der "Schiedsrichter-Zeitung". Daher wolle man die "modernen Entwicklungen" nun "selbst mitgestalten" – unter der Voraussetzung, dass die Fifa den Videobeweis im Grundsatz genehmigt. Ein geschickter Schachzug von Fandel: Wird diese Genehmigung erteilt, ist es ohnehin sinnvoller, bei der konkreten Ausgestaltung ein Wort mitzureden, als vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Wird sie hingegen verweigert, dann jedenfalls nicht deshalb, weil der DFB sich gegen die Neuerung ausgesprochen hat. So oder so werden die Unparteiischen ein wenig aus der Schusslinie genommen.
Bumerang der Hinrunde: Das "Halten und Zerren am Trikot im Strafraum" spiele "eine zunehmend dominante Rolle", hatte Herbert Fandel vor Saisonbeginn gesagt. Die Schiedsrichter seien deshalb aufgefordert, diese Vergehen noch konsequenter zu unterbinden. Es könne somit sein, dass künftig "das eine oder andere Mal öfter im Strafraum gepfiffen wird". Tatsächlich gab es bislang deutlich mehr Strafstöße als im Vergleichszeitraum der vorigen Saison. Doch glücklich ist Fandel damit keineswegs, vielmehr konstatierte er nach dem Ende der Hinrunde: "Spieler werfen sich im Strafraum ohne nennenswerte Gründe hin, um sich unrechtmäßig einen Vorteil zu verschaffen." Hellmut Krug schloss sich an: "Seitdem wir die Schiedsrichter dazu angehalten haben, bei Haltevergehen stärker durchzugreifen, lässt sich eine Reihe von Spielern schon bei minimalem Kontakt theatralisch fallen, um einen Elfmeter herauszuholen." Soll heißen: Die Angreifer nutzen die Verschärfung der Regelauslegung über Gebühr aus, die Schiedsrichter haben es dadurch noch schwerer. Eine eigentlich sinnvolle Anweisung hat sich so als Bumerang erwiesen.
Unglücksraben der Hinrunde: Zu allem Überfluss wurden die Bundesliga-Schiedsrichter auch noch von einer regelrechten Verletzungsmisere heimgesucht. Mit Jochen Drees, Tobias Welz und Deniz Aytekin mussten gleich drei Unparteiische die Leitung eines Spiels abbrechen und an einen Assistenten oder den Vierten Offiziellen übergeben – so viele wie noch nie in einer Saison. Michael Weiner, der nach einem Achillessehnenriss bereits die gesamte Hinrunde der vergangenen Spielzeit ausgefallen war, verletzte sich erneut und kam erst Ende November zu seinem ersten Saisoneinsatz im Oberhaus. Markus Schmidt hat wegen einer schweren Muskelverletzung bislang noch gar keine Partie geleitet. Im "Aktuellen Sportstudio" beklagte Fifa-Referee Manuel Gräfe eine mangelnde Professionalität in den Bereichen Trainingssteuerung und Physiotherapie und vermutete, dass dieser Faktor die zunehmenden Ausfälle begünstigt haben könnte. Zwar haben nach Angaben von Herbert Fandel mittlerweile acht von zehn Schiedsrichtern einen persönlichen Coach, dennoch scheinen das deutlich gestiegene Tempo in der Bundesliga und die damit zusammenhängende stärkere Belastung für die Referees immer häufiger ihren Tribut zu fordern.
Shooting-Star der Hinrunde: Bei allem Verdruss hat die Gilde der Unparteiischen jedoch auch Positives zu vermelden. Der bevorstehende Aderlass – nach dieser Saison müssen drei erfahrene Referees aus Altersgründen ausscheiden, nach der kommenden Spielzeit gar deren vier – führt dazu, dass bereits jetzt einige Schiedsrichter, die zuvor nicht zur "ersten Garde" zählten, vermehrt zum Einsatz kommen und auch zu Spitzenspielen herangezogen werden. Auf Tobias Stieler setzt die Schiedsrichter-Kommission dabei in besonderem Maße. Der 34-Jährige kam in der Hinrunde gleich auf elf Spielleitungen in der Bundesliga – mehr als jeder andere Unparteiische –, darunter waren Hochkaräter wie die Partien Borussia Dortmund – Borussia Mönchengladbach, Bayern München – VfL Wolfsburg und Schalke 04 – Bayern München. Das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigte Stieler, der seit 2014 auch auf der Fifa-Liste steht, dabei voll und ganz. Früher bisweilen etwas verbissen im Auftreten und gelegentlich auch zu schnell mit den Karten bei der Hand, tritt der Jurist inzwischen souveräner auf, hat erkennbar an Akzeptanz gewonnen und legt eine Leichtigkeit an den Tag, die ihn manchen Konflikt besser und geschmeidiger lösen lässt.
Nervensäge der Hinrunde: Dass der 1. FC Köln in dieser Saison von einigen spektakulären Fehlentscheidungen der Schiedsrichter betroffen war, stellt auch Herbert Fandel nicht in Abrede, der die Verärgerung der "Geißböcke" vielmehr "gut verstehen" kann. In seiner Kritik an den Unparteiischen hält der Kölner Geschäftsführer Jörg Schmadtke allerdings nicht immer Maß. Seine Behauptung etwa, die Referees seien so verunsichert, dass sie nicht mehr wüssten, was sie tun sollen, war genauso überzogen wie die Schulnote 5, die er den Spielleitern ins imaginäre Halbjahreszeugnis schrieb. Dass er Schiedsrichter Guido Winkmann im Spiel gegen Werder Bremen einen "Eierkopp" nannte (wofür er auf die Tribüne verbannt wurde), war ebenfalls nicht gerade dazu angetan, das Verhältnis zu den Unparteiischen zu verbessern. Seinen Vorschlag schließlich, die Referees an einen "runden Tisch" mit Trainern, Spielern und Managern zu setzen und dort über ihre Probleme zu diskutieren, nahm offenbar nicht einmal er selbst sonderlich ernst. Herbert Fandel sagte jedenfalls gegenüber dem "Kicker": "Zu dieser Thematik hat Herr Schmadtke weder mit mir noch mit irgendjemand anderem in der Schiedsrichterführung bislang Kontakt aufgenommen."
Quelle: ntv.de