Collinas Erben

"Collinas Erben" kontern das Lobdefizit EM-Schiedsrichter sind schon in Final-Form

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Psst! Den EM-Schiedsrichtern um Mark Clattenburg fällt es leicht, sich Respekt zu verschaffen. Ihre Leistungen sind einfach gut.

Psst! Den EM-Schiedsrichtern um Mark Clattenburg fällt es leicht, sich Respekt zu verschaffen. Ihre Leistungen sind einfach gut.

(Foto: REUTERS)

Nach dem ersten EM-Spieltag steht fest: Das Niveau der Schiedsrichter ist deutlich besser als bei der WM in Brasilien. Grobe Schnitzer oder Handtore? Bislang Fehlanzeige. Auch in strittigen Situationen sind die Referee-Entscheidungen fast immer vertretbar. Und selbst die Torrichter überzeugen plötzlich.

Die Europameisterschaft war noch keine Stunde alt, da gab es die ersten Diskussionen über den Schiedsrichter. Der ungarische Unparteiische Viktor Kassai hatte im Eröffnungsspiel zwischen Frankreich und Rumänien den Führungstreffer für die Gastgeber – und damit das allererste Tor des Turniers – anerkannt, obwohl es unmittelbar vor Olivier Girouds Kopfballtor zu einem Kontakt zwischen dem französischen Stürmer und dem rumänischen Keeper Ciprian Tatarusanu gekommen war. Ein klares Foul, meinten nicht nur die Rumänen, sondern auch der frühere Referee Urs Meier als TV-Experte. Zu geringfügig für einen Pfiff, befand dagegen der dänische Fifa-Schiedsrichter Kenn Hansen.

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Was für Kassai in der Realgeschwindigkeit auf dem Platz nicht zu erkennen war, zeigte schließlich die Superzeitlupe: Bei seinem Versuch, den Ball mit den Händen zu erreichen, war der etwas zu spät aus seinem Tor geeilte Tatarusanu von Giroud durch dessen natürliche Ausholbewegung, um zum Kopfball hochzusteigen, leicht am Arm getroffen worden. Ein Grenzfall, ein Zweikampf im Graubereich, eine Szene also, die letztlich uneindeutig blieb – und vom Unparteiischen auf dem Platz dennoch eine eindeutige Entscheidung verlangte.

Collinas Erben

"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.

Nimmt man dessen eher großzügige Linie in der Partie als Maßstab, dann lässt sich die Anerkennung des Tores zumindest vertreten, zumal der rumänische Schlussmann gegen den entschlossenen Giroud schlicht zu zögerlich war. Die Zeiten, in denen beinahe jede Berührung der Torhüter durch gegnerische Spieler abgepfiffen wurde, sind ohnehin schon länger vorbei.

Prädikat "sehr solide"

Kassais Entscheidung war also strittig, doch das sollte kein schlechtes Omen sein. Vielmehr verhält es sich mit den bisherigen Leistungen der Schiedsrichter bei dieser Europameisterschaft wie mit dem Niveau der Spiele selbst: Man liegt wohl nicht falsch, wenn man das Prädikat "sehr solide" vergibt. Die ganz großen Aufreger oder gar Ausreißer waren bislang jedenfalls nicht dabei, anders als bei der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren stehen die Unparteiischen und ihre Entscheidungen nicht im Mittelpunkt der Kritik. Sie bringen ihre Partien vielmehr fast durchweg verlässlich und sicher über die Bühne, sorgen nur selten für Entrüstung und pfeifen meist weder zu großzügig noch zu kleinlich. Kurzum: Sie machen einen wirklich guten Job.

Dazu trägt zweifellos bei, dass der Chef der europäischen Referees, Pierluigi Collina, darauf verzichtet hat, mit eigentümlichen Spezialanweisungen an die Spielleiter für Verwirrung zu sorgen. Sein Pendant auf Fifa-Ebene, Massimo Busacca, hatte bei der WM in Brasilien noch dadurch Unruhe gestiftet, dass er den Schiedsrichtern aufgetragen hatte, prinzipiell so spät wie möglich die Gelbe Karte zu zücken. Infolgedessen waren selbst klare taktische Fouls und auch das unsportliche Festhalten des Gegenspielers häufig ohne Folgen geblieben. Dass Busacca nach dem Turnier stolz auf die geringe Zahl an Gelben und Roten Karten hinwies, sorgte seinerzeit für reichlich Kopfschütteln.

Viel Augenmaß, wenige Karten

In Frankreich sieht die Sache anders aus, und das ist gut so. Gerade gegen taktische Vergehen, mit denen ein aussichtsreicher Angriff des Gegners unterbunden werden soll, gehen die Unparteiischen bislang konsequent mit Gelben Karten vor. Auch das Ziehen und Klammern, um einen gegnerischen Spieler mit unfairen Mitteln am Davoneilen zu hindern, wird folgerichtig mit Verwarnungen sanktioniert. Dennoch ist es bislang nicht zu einer Kartenflut gekommen, weil die Referees mit Augenmaß vorgehen, ihre Linie bei der Zweikampfbeurteilung vor allem am Spielcharakter ausrichten und insbesondere bei grenzwertigen Fouls zu Beginn einer Begegnung oft von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen, um sich bei den disziplinarischen Maßnahmen Schritt für Schritt steigern zu können.

Clément Turpin brachte sich im Spiel zwischen Ungarn und Österreich mit zuviel Fingerspitzengefühlt selbst in Bedrängnis.

Clément Turpin brachte sich im Spiel zwischen Ungarn und Österreich mit zuviel Fingerspitzengefühlt selbst in Bedrängnis.

(Foto: dpa)

Das heißt: Wenn (!) es sich vertreten lässt, ermahnen sie lieber eindringlich, als früh zur Karte zu greifen und dadurch möglicherweise allzu rigide Maßstäbe zu setzen. So wie beispielsweise Mark Clattenburg im Spiel zwischen Belgien und Italien, als der Italiener Éder schon nach sieben Minuten "den Schlappen drüber hielt", wie es im Fußballdeutsch heißt. Gegen eine Verwarnung wäre fraglos nichts einzuwenden gewesen, der Schiedsrichter entschloss sich jedoch, es bei einer deutlichen Ansprache zu belassen, die Angelegenheit also kraft seiner Persönlichkeit zu regeln. Dass das funktionierte und die Partie insgesamt fair blieb, lag maßgeblich daran, dass Clattenburg über eine herausragende Körpersprache und ein glänzendes Spielverständnis verfügt. Das Renommee des Engländers ist durch dessen sehr gute Leistung im Finale der Champions League noch einmal deutlich gestiegen und trägt wesentlich zur großen Akzeptanz bei, die Clattenburg bei den Teams genießt.

Korrekter Platzverweis für Österreich

Dass man sich als Referee mit zu viel Konzilianz allerdings auch in Schwierigkeiten bringen kann, zeigte Clément Turpin in der Begegnung zwischen Österreich und Ungarn. Der Franzose ließ das Spiel oft selbst bei klaren Fußvergehen laufen und beschwor so unnötig eine recht harte Partie herauf, die nach dem Führungstreffer der Ungarn zudem phasenweise hektisch war. Bei den Personalstrafen ließ der Unparteiische darüber hinaus insbesondere in den letzten 20 Minuten eine klare Linie vermissen und ahndete ähnlich gelagerte Vergehen nicht mit der gleichen Konsequenz.

In den entscheidenden Situationen lag das Schiedsrichterteam gleichwohl richtig: Turpins Assistent erkannte – was alles andere als einfach war – sehr gut, dass Ádám Szalai bei seinem Tor zum 0:1 knapp nicht im Abseits stand, und auch die Gelb-Rote Karte für Aleksandar Dragovic war korrekt. Denn der bereits mit der Gelben Karte vorbelastete Österreicher war bei einem Angriff einen Moment zu spät gekommen und hatte seinen Gegenspieler mit gestrecktem Bein und den Stollen voraus am Bein getroffen – eine rücksichtslose Spielweise, für die die Regeln nun mal eine Verwarnung vorsehen.

Warum die "Torrichter" besser sind als ihr Ruf

DFB-Akrobat Jerome Boateng klärte gegen die Ukraine auf der Linie. Das bewies die auch die Prüfung durch die Torlinientechnik.

DFB-Akrobat Jerome Boateng klärte gegen die Ukraine auf der Linie. Das bewies die auch die Prüfung durch die Torlinientechnik.

(Foto: imago/Matthias Koch)

Ein Novum bei dieser Europameisterschaft besteht darin, dass erstmals bei einem großen Turnier sowohl die Torlinientechnologie als auch die sogenannten Torrichter zum Einsatz kommen. So mancher fragt sich deshalb, ob die Herren an den Torlinien nicht eigentlich überflüssig sind, wo doch bereits die Technik die Torerzielung überwacht. Anders als es die gebräuchliche deutsche Bezeichnung nahe legt, haben die "zusätzlichen Schiedsrichter-Assistenten" – so heißen sie offiziell – allerdings weit mehr Aufgaben, als lediglich zu beurteilen, ob der Ball die Torlinie zwischen den Pfosten überschritten hat oder nicht.

So sollen sie beispielsweise Zweikämpfe im Strafraum genau verfolgen, Konfliktherde im Vorfeld von Freistößen oder Eckstößen im Auge haben, auf mögliche Vergehen im Zuge der Torerzielung achten, bei der Frage "Eckstoß oder Abstoß?" helfen und bei Strafstößen die Ausführung überwachen. Sie sind also gewissermaßen Strafraumrichter, die einen besonders wichtigen Teil des Spielfeldes beobachten und den Referee bei der Entscheidungsfindung in diesem Bereich unterstützen – vor allem dann, wenn sie eine bessere Sicht auf eine Spielsituation haben als er.

Anonyme Aktivität

Dass ihr Ruf in der Öffentlichkeit kein besonders guter ist und viele diese Assistenten für verzichtbar halten, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass es weder für die Spieler noch für die Zuschauer wirklich transparent ist, wann und inwieweit sie aktiv werden. Denn anders als die Assistenten an den Seitenlinien haben die Strafraumrichter keine Fahne in der Hand, mit der sie Zeichen geben, sondern lediglich etwas, das aussieht wie ein Fahnenstock ohne Tuch. Damit übermitteln sie dem Schiedsrichter Funksignale, um seine Aufmerksamkeit zu erreichen; ansonsten kommunizieren sie mit ihrem "Chef" über ihr Headset.

Werden die zusätzlichen Assistenten tätig, bekommt es außer den Mitgliedern des Schiedsrichterteams oft kaum jemand mit. Das verstärkt den Eindruck, dass sie passiv sind und mit den Entscheidungen nichts zu tun haben. Doch die Strafraumrichter greifen regelmäßig ein, etwa im Eröffnungsspiel der EM, als einer von ihnen dem Unparteiischen das Foul meldete, das zum Strafstoß für Rumänien führte. Dass sie genau wie die Referees und die Assistenten an den Seitenlinien bisweilen Fehler machen, ist menschlich und liegt daher in der Natur der Sache.

Pierluigi Collina zog jedenfalls schon vor einer Weile ein positives Fazit. "Die Geschwindigkeit des Spiels hat sich in den vergangenen zehn Jahren massiv verändert", sagte er. "Entscheidungen zu treffen, ist für Schiedsrichter heute viel schwieriger als in der Vergangenheit. Die Herausforderungen sind extrem gestiegen." Das Spiel werde immer schneller und die Spieler immer fitter, alleine könnten die Schiedsrichter diese Herausforderung kaum noch bewältigen, so der Schiedsrichter-Chef der Uefa weiter. Die Unterstützung durch die beiden zusätzlichen Assistenten sei daher sehr wertvoll und könne "ganz entscheidende Auswirkungen auf das Spiel haben". Die Strafraumrichter spielten insoweit "eine zentrale Rolle".

Quelle: ntv.de

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