"Collinas Erben" haben Mitleid Kein Artenschutz für Torhüter
18.12.2014, 14:20 Uhr

In Bedrängnis: Wolfsburgs Torhüter Diego Benaglio im Zweikampf mit dem Dortmunder kapitän Mats Hummels.
(Foto: imago/Uwe Kraft)
Die deutschen Schlussmänner haben ihren Sonderstatus verloren, nur hat es kaum jemand bemerkt - kurios. In Hamburg wird ein Stürmer gebremst - mit knapper, aber nicht in höchster Not. Die Partie des FC Bayern ist aus erfreulichem Anlass historisch.
In der vergangenen Woche wartete Hellmut Krug, der Schiedsrichtermanager der DFL, mit einer kleinen Überraschung auf: "Den Sonderstatus für einen Torhüter gibt es nicht mehr", sagte er der Fachzeitschrift "Kicker". Zweikämpfe zwischen dem Schlussmann und einem gegnerischen Stürmer müsse man grundsätzlich "so beurteilen, als ob sie zwischen zwei Feldspielern an der Mittellinie stattgefunden hätten". Der Keeper, heißt das, genießt nicht länger einen speziellen Schutz, nicht einmal in seinem Fünfmeterraum. Das Kuriose daran: Diese Regelung ist eigentlich gar nicht neu - sie wurde bereits im Sommer 2012 vorgenommen. Nur schien bislang kaum jemand Notiz von ihr genommen zu haben.
Und auch die Praxis der Schiedsrichter hatte sie eher wenig beeinflusst. Dabei bedeutete die Änderung zumindest theoretisch nicht weniger als das Ende einer deutschen Sonderbestimmung. Bis vor zweieinhalb Jahren stand im offiziellen Regelheft in der Regel 12 ("Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen") unter der ergänzenden Rubrik "Zusätzliche Erläuterungen des DFB" zu lesen: "Der Torwart darf im Torraum nicht gerempelt werden, außer er hält den Ball oder hindert einen Gegner."
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
In der Praxis führte dieser Zusatz dazu, dass die deutschen Referees - anders als ihre Kollegen in anderen Ländern - nahezu jeden gegnerischen Körperkontakt mit dem Torhüter in dessen Fünfmeterraum strikt unterbanden, ob dieser nun in Ballbesitz war oder nicht. Im Torraum stand der Schlussmann also gewissermaßen unter Artenschutz. Doch diese Sonderregelung des DFB wurde vor dem Beginn der Saison 2012/13 gestrichen und seither auch nicht wieder ins Regelheft aufgenommen. Zur Begründung für die Streichung hieß es seinerzeit in einer Mitteilung der DFB-Schiedsrichterkommission: "Diese Anweisung widerspricht den Fifa-Regeln und ist so nirgendwo vorgesehen. Die Fifa gab auch auf Regeltagungen bekannt, dass die normalen Regeln für den Schutz des Torwarts ausreichen würden." Eine Angleichung an internationale Gepflogenheiten also. Und deshalb fragten sich nach Krugs Äußerungen im "Kicker" nicht wenige, ob Schiedsrichter Tobias Welz dann nicht zu kleinlich war, als er beim Spiel zwischen Borussia Dortmund und dem VfL Wolfsburg am Mittwochabend in der 55. Minute einen Freistoß für Diego Benaglio gab. Schließlich war der Wolfsburger Torhüter von Mats Hummels im Luftkampf nur leicht bedrängt worden. Hummels‘ Mitspieler Neven Subotic köpfte den Ball, den Benaglio daraufhin fallen gelassen hatte, an den Pfosten.
Doch hier griff die besagte Änderung gar nicht. Schließlich heißt es in der Regel 12 weiterhin: "Kontrolliert der Torhüter den Ball mit seinen Händen, darf er von einem Gegenspieler nicht angegriffen werden." Eine solche Kontrolle ist beispielsweise gegeben, wenn der Keeper "den Ball mit beiden Händen festhält". Genau das tat Benaglio, bevor er vor Hummels leicht gerempelt wurde - was regeltechnisch betrachtet einen Angriff darstellt. Der Unparteiische lag also völlig richtig, als er diese Aktion abpfiff.
Mit knapper, aber nicht in höchster Not
Längst nicht mehr neu ist, dass es für das "Vereiteln einer offensichtlichen Torchance" durch ein "Vergehen, das mit Freistoß oder Strafstoß zu ahnden ist", einen Platzverweis gibt. Diese Regelung hatte das International Football Association Board schon 1983 eingeführt, und der Volksmund fand für diesen Tatbestand bald ein eigenes, prägnantes Wort: "Notbremse". Wann genau eine Torchance so offensichtlich ist, dass ihre regelwidrige Verhinderung zu einer Roten Karte führt, das sollen und müssen die Schiedsrichter auf dem Platz beurteilen.
Aus der Sicht von Referee Felix Brych lag am Dienstagabend in der 53. Minute der Partie zwischen dem Hamburger SV und dem VfB Stuttgart eine solche "Notbremse" vor, als der Stuttgarter Verteidiger Georg Niedermeier den durchstartenden Hamburger Stürmer Artjoms Rudnevs kurz vor der Strafraumgrenze an der Schulter zu Boden zog. Aber war Rudnevs‘ Torchance tatsächlich unzweifelhaft und eindeutig? Anhaltspunkte in solchen Fällen sind vor allem: die Entfernung und der Winkel zum Tor, die Laufrichtung des Angreifers (vom Tor weg oder zum Tor hin?) - und nicht zuletzt die Frage, ob außer dem Torwart noch ein Verteidiger eine realistische Chance hat, das Unheil abzuwenden.
Rudnevs‘ Schussposition war zweifellos günstig, weil er sich in zentraler Position befand, und der Weg zum Tor war auch nicht mehr weit. Allerdings befand sich der Stuttgarter Gotoku Sakai ganz in der Nähe - und seine Möglichkeit, mit fairen Mitteln einzugreifen, darf man wohl als aussichtsreich bezeichnen. Deshalb waren nicht alle Kriterien für eine "Notbremse" erfüllt, weshalb statt des Feldverweises gegen Niedermeier eine Gelbe Karte die bessere Lösung gewesen wäre.
Ein Handspiel - und keiner merkt‘s
In Köln kam es bei der Begegnung gegen Mainz 05 unterdessen nach 73 Minuten zu einer äußerst kniffligen Situation für den Unparteiischen Florian Meyer: Nach einem Eckstoß köpfte der Kölner Stürmer Anthony Ujah den Ball aufs Tor, doch das Spielgerät wurde vom Arm des unmittelbar neben Ujah hochspringenden Mainzers Junior Diaz gestoppt. Die sehr geringe Distanz zwischen Angreifer und Verteidiger sprach dabei gegen eine Absicht. Allerdings hatte Junior Diaz seinen Arm auf Kopfhöhe gebracht und vom Körper wegbewegt, was nach Maßgabe des DFB ein Kriterium für ein strafbares Handspiel ist. Ungewöhnlich war, dass fast niemand im Stadion die Szene wirklich registriert hatte: Das Publikum reagierte gar nicht, und von den Kölner Spielern gab es nur vereinzelt zaghaften Protest. Schiedsrichter Meyer ließ dann auch weiterspielen - und wer will es ihm verdenken, wenn sich ein Handspiel erst mit dem Zeitlupenwissen als solches identifizieren lässt?
Die eigentlich weitgehend unspektakuläre Partie zwischen dem FC Bayern München und dem SC Freiburg fand derweil Eingang in die Geschichtsbücher - nämlich als das fairste Bundesligaspiel, seit die Zahl der Foulspiele erhoben wird und in die Statistik eingeht. Lediglich achtmal musste Schiedsrichter Jochen Drees wegen eines Vergehens nach Regel 12 seine Pfeife in den Mund nehmen - das ist der niedrigste Wert überhaupt. Und nur böse Zungen behaupten, das habe vor allem daran gelegen, dass die Freiburger gegen den haushoch überlegenen Rekordmeister gar nicht in die Zweikämpfe kam.
Quelle: ntv.de