Redelings über den FC St. Pauli Ewald Lienen wurde gehalten, um zu bleiben
09.05.2017, 11:15 Uhr
Sie haben wieder viel Spaß beim FC St. Pauli - und Grund dazu: Cheftrainer Ewald Lienen (l.), Geschäftsführer Andreas Rettig (r.) und Co-Trainer Olaf Janßen.
(Foto: imago/DeFodi)
Was für eine Story! Der FC St. Pauli ist einer der Favoriten für die Auszeichnung "Verein des Jahres". Als nichts mehr ging, hielten die Hamburger trotzdem am Trainer fest. Darauf dürfen Ewald Lienen und sein Klub heute stolz sein.
So kann Fußball auch sein! Zur Winterpause hatte die Faust des Zweifels selbst hartgesottene St.-Pauli-Fans auf die Bretter geschickt. Elf Punkte nach 17 Partien, der letzte Tabellenplatz in einer spielerisch sehr dürftigen Zweiten Liga - wer da noch Hoffnung auf den Klassenerhalt überm Hamburger Himmel sah, der hätte mit seinem Optimismus wohl auch den Untergang der "Titanic" verhindern können.
Dass in dieser Situation in 99,9 Prozent aller Fälle der Cheftrainer seinen Spind räumen muss, wird nicht umsonst mit den üblichen Mechanismen des Geschäfts erklärt. Doch Ewald Lienen durfte bleiben. Auch dann noch, als man das erste Spiel der Rückrunde zu Hause gegen den VfB Stuttgart verlor. Die Offiziellen des FC St. Pauli blieben weiterhin ruhig und ihrer Linie treu.
Rundherum änderte man so einiges - entließ den Sportdirektor Meggle, holte Olaf Janßen als Co-Trainer -, doch eine Person im Verein stand nach außen hin nie zur Disposition: Ewald Lienen. Eins war ab diesem Moment Ende des Jahres 2016 klar: Sollte dieses im Profifußball so seltene Experiment gelingen, würde man manch eingefahrenen und inzwischen als selbstverständlich angesehenen Pfad der Problemlösung spektakulär ad absurdum führen. Seit dem Wochenende und dem Klassenerhalt haben die Hamburger abseits von Marketing und Folklore nun endgültig bewiesen: So funktioniert die Version eines Vereins, der sich vollkommen zu Recht als "anders" bezeichnen dürfte - wenn er es denn wollte!
Rettig und Lienen - das passt
Ben Redelings ist "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und leidenschaftlicher Anhänger des VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt in Bochum und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Seine kulturellen Abende "Scudetto" sind legendär. Für n-tv.de schreibt er stets dienstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Sein Motto ist sein größter Bucherfolg: "Ein Tor würde dem Spiel gut tun".
Als Ewald Lienen im Dezember 2014 zum FC St. Pauli kam, war eine der großen Stützen des Trainers noch gar nicht da. Der ehemalige DFL-Geschäftsführer und heutige kaufmännische Geschäftsleiter des Teams vom Heiligengeistfeld, Andreas Rettig, genießt unter den Fußballromantikern einen guten Ruf. Trotz seines früheren Engagements beim Kommerztreiber DFL gilt er als kritische Stimme und Quergeist. Eigenschaften, die hervorragend zu seinem Chefcoach Ewald Lienen passen.
Wie das aussehen kann, wenn man das eigene Schicksal demonstrativ mit dem des Trainers verbindet, konnten die Zuschauer am 17. Spieltag bei der Partie zwischen dem FC St. Pauli und dem VfL Bochum beobachten. In der ersten Halbzeit gab Rettig an der Seitenlinie den nörgelnden Oberfan, der jede Entscheidung gegen sein Team unmittelbar mit dem Schiedsrichter-Assistenten und dem vierten Offiziellen ausdiskutierte. Das ging so weit, dass er in der 28. Minute nach einer harten Aktion des VfL-Spielers Perthel vehement und persönlich bei Schiedsrichter Zwayer eine Rote Karte forderte - und genau diese dann tatsächlich auch gezogen wurde. Eine absurde, ja, unsportliche Szene, die jedoch auch den Fans des VfL Bochum auf eine unterschwellige Art und Weise imponierte, weil sie so eindrucksvoll zeigte, wie eng beim FC St. Pauli die Verbundenheit zwischen Vorstand und Trainer in diesem sogenannten Schicksalsspiel gelebt wurde.
Lienen häufig als "Öko" abgestempelt
Nachdem Ewald Lienen vor zwei Jahren die Millerntor-Kicker auf den letzten Metern vor dem Sturz in die Drittklassigkeit bewahrt hatte, hielt er für einen Augenblick inne und fragte dann in die Runde: Warum erst jetzt? Warum bin ich erst jetzt, so kurz vor dem Ende meiner Karriere, beim FC St. Pauli gelandet, obwohl doch jedermann schon viel früher hätte erkennen müssen, dass diese Konstellation einfach wie geschaffen füreinander ist?

Trainer Jupp Heynckes mit Spieler Ewald Lienen - das war im Jahr 1983 bei Borussia Mönchengladbach.
(Foto: imago sportfotodienst)
Ein Verein, der bewusst Fußball und eine politische Haltung nicht ausschließt, sondern fördert und lebt und ein Trainer, der sich bereits als Spieler politisch engagierte und im Frühjahr 1982 gegenüber Journalisten, die ihn zu der Partie Bielefeld gegen Frankfurt interviewen wollten, sagte: "Sie können mich alles über den Ostermarsch fragen". Das passt! Übrigens: Damals regte sich Werner Lorant, als beinharter Verteidiger der Eintracht unterwegs, über das "Gewäsch" von Lienen auf und meinte: "Der Depp, dieser Hippie. Der soll bloß den Mund halten. Schließlich verdient er wie wir alle sein Geld mit Fußball!"
Nicht wenige Fans haben Ewald Lienen seit dieser Zeit als "Öko" und als schwierigen Typen in einer Schublade abgelegt. Dass er ein zutiefst sozialer Mensch ist und schon früh über die Zeit nach der Fußballerlaufbahn nachdachte, zeigt ein Zitat aus dem Jahr 1980. Nachdem Lienen im Sommer mit einem Campingbus und 20 behinderten Kindern an die Ostsee gefahren war und dabei die Kosten für den Bus zu großen Teilen übernommen hatte, äußerte er gegenüber seinem Arbeitgeber, der Borussia aus Mönchengladbach, den Wunsch, mit dem Fußball aufhören zu wollen, um endlich sein Pädagogikstudium fertigzustellen.
Doch sein Trainer Jupp Heynckes wollte ihn nicht gehen lassen und hatte sich deshalb etwas für den angehenden Sozialpädagogen ausgedacht: "Wenn du noch drei, vier Jahre spielst, hättest du genug Geld, ein Haus zu kaufen und dort mit Behinderten zu arbeiten. Wir müssten vom Verein aus mal überprüfen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, damit du die Heimleiterfunktion erfüllen kannst. Selbstständig arbeiten jedenfalls könntest du dann!" Was für aufrichtige Gedanken, was für tolle Überlegungen von Jupp Heynckes in der damaligen Zeit!
"Ich habe nichts gegen Fußball"
Es kam anschließend alles anders, weil Lienen viel Geld mit den sogenannten Bauherrenmodellen verlor und weiter Fußball spielen musste, um erst einmal seine Schulden zu tilgen. Seine Lebenseinstellung hat er sich auch in dieser schwierigen Zeit bewahrt - bis heute. Und deshalb tut es (dem Fußball) so gut, dass ausgerechnet der FC St. Pauli auch in dieser finsteren Negativ-Phase der laufenden Saison zu seinem Cheftrainer hielt. Ohne den gesamten Vorgang allzu sehr zu glorifizieren: Die Aktion war auch ein Zeichen für eine andere Art des Umgangs miteinander. Gegen den Zeitgeist der Wegwerf-Gesellschaft und für ein Stück mehr Menschlichkeit.
Dem Ewald Lienen des Jahres 1980 hätte diese beeindruckende Art und Weise seines Vereins sicherlich gefallen. Damals sagte er: "Ich habe nichts gegen Fußball, ich spiele dieses Spiel gerne. Ich wende mich nur gegen dessen Pervertierung. Ich habe Spaß an der individuellen, freiwilligen Leistung. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die sich im Fußball spiegelt und deren Spiegelung das Zerrbild einer menschlichen Gesellschaft ist. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die mich als mickrigen, kleinen Menschen achtet, anerkennt, akzeptiert, und nicht wegen meiner Leistung als Fußballer. Ist das denn nicht verständlich?" Doch, lieber Ewald Lienen, das ist es!
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Quelle: ntv.de