Druck vor WM-Duell mit Russland "Aus für Spanien wäre schon eine Tragödie"
01.07.2018, 12:11 Uhr
Die spanische Nationalmannschaft ist der Favorit auf den Titelgewinn in Russland.
(Foto: imago/Agencia EFE)
Als klarer Favorit geht Spanien in sein WM-Achtelfinale gegen Gastgeber Russland, obwohl das Team im Turnier bislang nicht durchgehend überzeugen konnte. "Die Leistung war weit davon entfernt, exzellent zu sein", sagt der spanische Journalist Adrià Albets. Er begleitet die WM als Field Reporter für den Radiosender Cadena Ser und ist weiterhin überzeugt: "Es gibt keine Nationalmannschaft mit mehr Klasse." Im Gespräch mit n-tv.de erklärt Albets, welche Dinge Spanien nachjustieren muss, um wieder eines "der besten Teams der Welt" zu sein, warum der Trainer-Schock vor WM-Beginn sogar eine gute Nachricht gewesen sein könnte, wovor er sich im Duell mit Russland am meisten fürchtet - und warum wegen der deutschen WM-Blamage sogar das spanische Training verschoben werden musste.
Unmittelbar vorm WM-Start hat Spanien seinen Coach Julen Lopetegui gefeuert und durch Fernando Hierro ersetzt. Ist das für Sie - trotz der Vorrunden-Blamage von Weltmeister Deutschland - bislang immer noch der größte Schock des Turniers?
Oh ja, das war einfach ein riesiger Schock für uns. Für die Spieler, die Fans und auch die Medien. Damit hatte niemand gerechnet, das war ein Erdbeben. Aber obwohl es völlig überraschend kam: Letztlich war die Entscheidung des spanischen Verbandspräsidenten Luis Rubiales auch verständlich und vielleicht sogar eine gute Nachricht für Spanien.
Ein Trainerbeben als gute Nachricht?
Natürlich hatte der Wechsel großen Einfluss auf die Mannschaft, aber nicht unbedingt nur im Negativen. Im ersten Moment war es ein Schock, es war sehr schwierig für die Spieler, es gab viele Zweifel. Aber mit den ersten Trainings und den ersten Spielen unter Fernando Hierro hat sich die Situation normalisiert. Ich glaube, letzten Endes wird es einen positiven Effekt haben. Die Spieler wollen den Leuten beweisen, dass sie auch ohne Lopetegui um den WM-Titel kämpfen und trotzdem gewinnen können. Die Spieler und Hierro sind eine Einheit in der Kabine. Was passiert ist, macht sie stärker. Und das wollen sie zeigen.
Spanien hat seine Vorrundengruppe gewonnen und die vermeintlich leichtere Turnierhälfte erreicht. Trotzdem waren die Medien nach dem Marokko-Spiel äußerst kritisch. Auf einer Skala von 1 (schlecht) bis 10 (exzellent) - wie bewerten Sie Spaniens WM-Leistung bisher?
Gute Frage. Die Leistung ist weit davon entfernt, exzellent zu sein - sehr weit entfernt. Spanien hat der Welt vor der WM gezeigt, wie gut sie sein können. Aber bei der Weltmeisterschaft haben sie in allen drei Spielen sehr gelitten. Jeder weiß, dass sie viel besser spielen können. Ich würde eine Fünf geben.
Der russische Spieler Denis Tscheryschew hat vor dem Achtelfinale gegen Spanien gesagt, die spanische Mannschaft sei nah dran, die beste der Welt zu sein. Dem stimmen Sie also nicht zu?
Momentan nicht. Aber Spanien hat natürlich immer noch das Potenzial dazu. Wenn man sich die Spieler anschaut, gibt es keine Nationalmannschaft mit mehr Klasse, mit mehr herausragenden Spielern. Sie haben schon bewiesen, wie gut sie Fußball spielen können. Wenn Spanien einige Dinge an seinem Spiel nachjustiert, können sie wieder eines der besten Teams der Welt sein.
Diese Nachjustierungen haben auch die Spieler selbst angemahnt. Nach dem 2:2 gegen Marokko sagte Mittelfeldspieler Isco: "Wir können nicht so weitermachen." Wer muss sich ändern - und was muss sich im spanischen Spiel ändern?

Fernando Hierro hat die Mannschaft erst zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel übernommen. Alles andere als der Titel wäre dennoch eine Enttäuschung.
(Foto: imago/Agencia EFE)
Eine ganze Menge. Die Mannschaft muss sich in vielen Dingen verbessern, zunächst in der Abwehrarbeit. Sie gestatten den Gegnern viel zu viele Chancen und Tore. Es ist doch einfach nicht zu verstehen, dass Teams wie Marokko oder der Iran gegen Spanien gefährliche Situation kreieren können - gegen eine Abwehr mit Gerard Pique und Sergio Ramos, zwei der besten Verteidiger der Welt. Und natürlich muss Spanien auch selbst mehr Tore erzielen. Sie haben sehr gute Stürmer mit Diego Costa und Iago Aspas, sie haben die Fähigkeiten, um öfter zu treffen. Sie müssen noch gefährlicher für ihre Gegner werden.
Das spanische Angriffsspiel scheint extrem abhängig von Andres Iniesta - einem 34-Jährigen, der normalerweise nicht mehr 90 Minuten spielt. Welche Bedeutung hat er für Spanien?
Andres Iniesta ist ein Phänomen, ein Topspieler, trotz seiner 34 Jahre. Spanien braucht Iniesta. Er muss auf dem Platz stehen, er ist extrem wichtig für die Mannschaft. Und er sorgt beim Gegner für sehr viel Respekt. Sie sehen ihn und denken: Wow, das ist Iniesta. Er ist vielleicht physisch nicht mehr so stark wie früher. Aber er ist mit seinen Fähigkeiten immer noch einer der wichtigsten Spieler für Spanien.
Was in Spaniens Gruppenspielen aufgefallen ist, sind die individuellen Fehler von Spielern, von denen man sie nicht erwarten würde: Torwart David de Gea patzte gegen Portugal, Kapitän Sergio Ramos gegen Marokko. Wie erklären Sie sich diese Aussetzer?
Schwierig. De Gea fehlt einfach Selbstvertrauen, denke ich. Er hat in der WM-Vorbereitung gegen die Schweiz einen schweren Fehler gemacht, dann gegen Portugal noch einen. Sein Selbstvertrauen ist nicht bei 100 Prozent, obwohl ihn seine Mitspieler und auch der Trainer unterstützen. Bei Ramos könnte es natürlich damit zusammenhängen, dass er den verunsicherten de Gea hinter sich weiß. Ich glaube aber, bei ihm ist es eher ein Konzentrationsproblem während des Spiels. Aber es ist schwer zu erklären, warum Topspielern solche Fehler unterlaufen.
Auch Deutschland sucht ja immer noch eine Antwort auf diese Frage. Anders als Deutschland ist Spanien noch im Turnier und trifft in der ersten K.-o.-Runde auf Gastgeber Russland - in Moskau vor 80.000 Zuschauern. Wie ist die Stimmung in Spanien vor dem Spiel?
Die Leute in Spanien sind extrem zuversichtlich. Sie glauben, dass Spanien einfach besser ist als Russland. Aber hundertprozentig sicher sind sie doch nicht, es gibt auch einige Zweifel. Russland spielt zuhause, viele Fans werden die Russen im Stadion unterstützen, es wird ein harter Kampf. Die Leute glauben zwar, dass Spanien überlegen ist, aber sie sind auch vorsichtig nach dem was in den drei Vorrundenspielen passiert ist.
Oder was Deutschland passiert ist.
Ja, ja, genau.
Wovor fürchten Sie sich mehr: Der Qualität der russischen Spieler - oder vor individuellen Fehlern der spanischen Spieler?
Vor beidem. Das spanische Team hat sich möglicherweise mehr auf die eigenen Fehler fokussiert, um sie abzustellen. Aber sie kennen die Qualitäten der Russen natürlich ganz genau. Nicht nur ein, zwei russische Spieler wie Stürmer Artem Dzyuba sind gefährlich, sondern das gesamte Team. Russland wird von seinen Leuten angetrieben werden, das gibt ihnen noch einmal zusätzliche Energie und Selbstvertrauen.
Der russische Trainer Stanislaw Tschertschessow hat gesagt, sein Team wolle natürlich gewinnen, könne auch gewinnen - aber er spüre keinen Druck. Glauben Sie das?
Nie im Leben! (lacht) Es ist unmöglich, keinen Druck zu verspüren, wenn Du im eigenen Land vor 80.000 Leuten spielst. Für Russland dürfte diese Partie so etwas wie das Spiel ihres Lebens sein, sie können eines der Topteams aus der WM werfen. Aus ihrer eigenen WM. Natürlich werden sie Druck haben.
Und das spanische Team?
Die Erwartungen sind riesig, damit ist auch der Druck riesig. Bei den letzten beiden Turnieren - WM 2014 und EM 2016 - hat Spanien versagt. Sie müssen das mit einer guten WM in Russland wiedergutmachen. Jeder weiß doch, dass sie ein sehr gutes Team sind, dass viele Spieler große individuelle Klasse haben. Russland ist fußballerisch einfach nicht auf demselben Niveau. Das Aus für Spanien wäre ein großer Fehlschlag, fast schon eine Tragödie.
War die WM-Tragödie von Weltmeister Deutschland eine Warnung für Spanien?
Natürlich! Für jede Mannschaft ist es eine Extramotivation, ein besseres Team zu schlagen. Das ist Deutschland passiert, das haben alle genau registriert. Die spanischen Spieler sind gewarnt und wissen genau: Das darf ihnen nicht passieren. Ich weiß, dass die spanischen Spieler Deutschlands Partie gegen Südkorea geschaut haben. Deshalb musste sogar das Training verschoben werden.
Spaniens Trainer Fernando Hierro hat vor dem Russland-Spiel gesagt: Wir haben viel Vertrauen, wir wollen optimistisch sein. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Ich bin sehr optimistisch. Spanien hat hier noch nicht seinen besten Fußball gezeigt. Aber bei den Spielern hat es im Kopf klick gemacht, weil jetzt eine neue Runde beginnt. Es heißt siegen oder fliegen. Wenn Du in der Vorrunde gegen Portugal oder den Iran patzt, kannst Du das noch ausbügeln. In der K.o.-Runde geht das nicht mehr, das wissen die Spieler genau.
Ihre Prognose?
Mein Gefühl sagt mir, dass es Spanien bis ins Halbfinale schaffen kann - oder sogar ins Finale.
Mit Adrià Albets sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de