Fußball-WM 2018

Experte Bartelt über die WM-Hysterie "Brasilien wird ein Fiasko vermeiden"

Es gibt nur wenig Hoffnung, dass die Proteste bei der WM friedlich bleiben werden.

Es gibt nur wenig Hoffnung, dass die Proteste bei der WM friedlich bleiben werden.

(Foto: REUTERS)

Streiks, Proteste, Ausschreitungen: In Brasilien wächst die Angst vor einer WM der schlechten Nachrichten. Brasilien-Kenner Dawid Bartelt beschwichtigt. Er erklärt, wie die WM trotzdem über die Bühne geht - und warum die Proteste ein gutes Signal für das Land sind.

Am Donnerstag wird die WM in Sao Paulo offiziell angepfiffen. Sie sagen aber, die Weltmeisterschaft hat längst begonnen - am 20. Juni 2013. Warum?

Weil damals während des Confederations Cups in Brasilien landesweit zwei Millionen Menschen auf den Straßen waren. Nicht nur in den Hauptstädten der Bundesstaaten, auch in Provinzstädten. Diese Proteste fielen zwar nicht vom Himmel. Aber ihre Massivität am 20. Juni hat alle überrascht, die Regierung, die Medien. Nicht mal der brasilianische Geheimdienst hat es gewusst.

Was hatte das mit der WM zu tun?

Dawid Danilo Bartelt leitet seit 2010 das Brasilienbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Während seiner Studienzeit lebte er u.a. in Recife.

Dawid Danilo Bartelt leitet seit 2010 das Brasilienbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. Während seiner Studienzeit lebte er u.a. in Recife.

Die Brasilianer haben da gezeigt, dass es nicht so ist, wie viele immer denken: Dass sie als fußballverrückte Nation, wenn ihre Nationalmannschaft spielt, alle Probleme und Sorgen und politischen Schwierigkeiten vergessen. Sie haben das eben nicht getan. Sondern sie haben gleichzeitig an den guten Spielen der Mannschaft teilgenommen und protestiert, und das ging zusammen. Insofern hat für mich die WM damals begonnen.

Nur wirklich geändert haben die Proteste nichts an der Art, wie die Fifa-WM jetzt ausgetragen wird.

Nein, natürlich nicht, dafür kamen sie zu spät. Aber die Brasilianer haben der Weltöffentlichkeit erstmals gezeigt, dass man die starken Eingriffe durch so eine in erster Linie ökonomisch orientierte Fifa-WM in einem demokratischen Gemeinwesen nicht einfach hinnehmen muss. Vielleicht profitieren davon zukünftige Weltmeisterschaften. Fifa-Generalsekretär Jerome Valcke hatte ja schon vor den Protesten selber gesagt: Fifa-WM und Demokratie, das passt möglichweise nicht so richtig zusammen. Das fand ich eine bezeichnende Äußerung. Ich würde es genauso sagen.

Wie haben sich die Proteste seit dem Sommer 2013 entwickelt?

Sie haben nie aufgehört, aber diese Massivität nicht mehr erreicht. Gleichzeitig haben sie sich vervielfältigt, sind lokaler geworden, verschiedene Berufsgruppen wie Taxifahrer und Lehrer haben angefangen zu protestieren und zu streiken. Und dann trat ein für Brasilien vorher nicht bekannter Akteur auf, nämlich die "Black Blocs", der schwarze Block. Das hat einen sehr unguten Prozess beschleunigt, den Prozess der Kriminalisierung der Protestbewegung insgesamt.

Inwiefern?

Als die Proteste so groß waren, waren ja alle dafür, die Regierung, die Opposition, die Fußball-Nationalmannschaft. Die Protestierenden hatten auch die Solidarität derer, die im Stadion waren. Das hat sich jetzt geändert: Dadurch, dass die "Black Blocs" gewaltbereit sind, aber vor allem dadurch, dass die Polizei noch viel gewaltbereiter ist und nichts anderes gelernt hat, als solchen Protesten mit unverhältnismäßiger Gewalt und Brutalität zu begegnen. Dadurch haben sich diese Proteste zu einer sehr gewalttätigen Geschichte entwickelt. In den Medien sind plötzlich wieder alle Protestler Vandalen. Das alles hält auch viele Leute ab, die nach wie vor finden, sie müssten und sollten protestieren. Bisher ist ja nichts von dem, was nach den Protesten 2013 an strukturellen politischen Reformen versprochen wurde, umgesetzt worden. Aber sie trauen sich nicht mehr auf die Straße.

Was erwarten sie während der WM?

Es wird zu Protesten kommen, da zweifelt niemand mehr dran. Diese Massenproteste vom Juni 2013 sind im Moment nicht wiederholbar. Aber ich denke schon, dass es den WM-Volkskomitees nochmal gelingen wird, etwas größer zu mobilisieren an einigen Spieltagen. Die Schwierigkeit wird natürlich sein, dass ein Großteil der Bevölkerung dann doch eher auch die Spiele wird sehen wollen. Aber: Wir sind schon einmal überrascht worden.

Der Slogan der Volkskomitees war: "Es wird keine WM geben!" Nun ist ihr erklärtes Ziel: Mindestens ein WM-Spiel verhindern, was Regierung und Fifa auf keinen Fall dulden werden. Wie soll da eine Eskalation verhindert werden?

Ich erwarte in der Tat auch gewalttätige Auseinandersetzungen, leider. Den Versuch, ein Spiel zu verhindern, das muss man mal abwarten. Aber es wird sicherlich Versuche geben, einen normalen WM-Ablauf massiv zu stören. Und ich hab keinen Zweifel daran, dass darauf dann eine massive gewalttätige Antwort erfolgen wird. Diese Polizei, ich sag‘s noch einmal, kann nichts anderes. Die haben Deeskalation oder sowas nicht gelernt.

Auch nicht in dem einen Jahr seit dem Confed Cup?

Nein, nicht dass ich wüsste. Das bleibt eine Militärpolizei.

Wie entscheidend wird das Abschneiden der brasilianischen Nationalmannschaft für den Verlauf etwaiger Proteste?

Die, die jetzt Proteste planen, machen das völlig unabhängig davon, wie die brasilianische Mannschaft spielt. Auch einen Bezug zu den Präsidentenwahlen im Oktober sehe ich nicht. Das wird oft übertrieben.

Bislang ist die WM-Vorfreude in Brasilien verhalten. Wie wird die Stimmung während des Turniers sein?

Es geht ja bei den ganzen Protesten nicht darum, dass die Leute keinen Spaß mehr am Fußball haben. Sie kritisieren aber, wie die WM hier abläuft, was sie vor allen Dingen kostet, wer davon profitiert - und wer nicht. Ich glaube, die Freude am Spiel kommt schon. Die Medien arbeiten massiv daran. Es findet eine richtige Propaganda-Kampagne statt, dass diese WM ein großes Spektakel wird.

Bei sportlichen Großereignissen geht es immer auch ums Vermächtnis. Welches hinterlässt die WM in Brasilien?

Also volkswirtschaftlich bringt die WM gar nichts, das war aber auch bei anderen Fußball-Weltmeisterschaften so und das gibt die brasilianische Regierung mittlerweile auch zu. Bei den zwölf Stadien müssen wir davon ausgehen, dass mindestens vier, eher fünf Stadien als ziemlich teure Vorzeigeprojekte nutzlos in der Gegend herumstehen und sehr viel Unterhalt kosten werden. Auch im Breitensport bringt die WM gar nichts. Fußballförderung, man glaubt es gar nicht bei den Brasilianern, findet im Jugendbereich, im Amateurbereich praktisch nicht statt.

Was bleibt dann noch?

Am ehesten die anderen Infrastrukturprojekte, da wird ein Vermächtnis bleiben. Aber das ist kleiner, als ursprünglich angekündigt und versprochen.

Hat ausgerechnet das Fußballland Brasilien mit der WM ein Eigentor geschossen?

Bisher ja, aber wir sind erst in der ersten Halbzeit. Die zweite beginnt am Donnerstag, dann gucken wir mal. Aber das Eigentor zählt auf jeden Fall. Zu den Kosten, Protesten, Problemen kommen ja auch noch Menschenrechtsverletzungen von ziemlichem Ausmaß im Zusammenhang mit der WM, das ist mit das Schwerwiegendste. Die Volkskomitees schätzen in ihren neuesten Zahlen, dass 250.000 Menschen von Zwangsräumungen bedroht waren oder noch bedroht sind. Dazu hat es sogar schon eine Sitzung der Menschenrechtskommission der Uno gegeben. Dafür ist Eigentor eigentlich schon ein verharmlosender Begriff.

Präsidentin Dilma Rousseff betont trotz aller Probleme bei jeder Gelegenheit, Brasilien werde die "beste aller Weltmeisterschaften ausrichten".

Na was soll so eine Präsidentin sagen? Die Regierung ist nervös, weil sie natürlich fürchtet, dass während der WM Bilder von Tränengasschwaden, eingeworfenen Fensterscheiben und von prügelnder Polizei um die Welt gehen. Die Äußerung würde ich nicht überbewerten.

Kritiker fürchten ein Fiasko. Was erwarten Sie?

Es hat sich auch durch die massive Kritik der Fifa bereits das Bild verfestigt: Souverän ist Brasilien nicht gerade mit der WM umgegangen. Aber ein Fiasko erwarte ich nicht. Die Brasilianer haben eine erstaunliche Fähigkeit, solche Sachen über Improvisation und dieses "Irgendwie wird es schon fertig" dann doch hinzubekommen. Dieses Irgendwie hat Kosten, neun Arbeiter sind gestorben, es wird bei der WM immer mal wieder zu Pannen kommen. Aber die Kosten werden nicht so aussehen, dass die WM nun völlig zusammenbrechen wird.

Stichwort Kosten: Die Fifa erwartet einen Rekordgewinn. Für Brasilien haben sich die Kosten auf rund 8 Milliarden Euro vervielfacht und werden entgegen der Versprechungen fast ausschließlich aus Steuergeldern aufgebracht.

Viele Leute sagen, die Kosten sind insgesamt noch viel höher. Der brasilianische Sportjournalist Juca Kfouri hat sogar mal von 30 Milliarden Dollar gesprochen. Auf jeden Fall ist es wirklich die teuerste WM aller Zeiten - und der Anteil der öffentlichen Hand liegt mittlerweile bei 85 Prozent.

Kann sich Brasilien das leisten?

Brasilien kann sich das schon leisten. Diese Gleichung, wenn wir das Geld nicht für die WM ausgegeben hätten, dann sehe es in den ganz großen Problemfeldern Gesundheitspolitik und Bildung besser aus, ist ein bisschen einfach. In diesen Bereichen wird jedes Jahr ein Vielfaches der acht WM-Milliarden investiert. Da fragt man sich eher: Wenn da soviel Geld zur Verfügung steht Jahr für Jahr, warum ändert sich dann so wenig zum Guten? Das ist eine ganz andere Debatte. Und trotzdem wird das Geld für die WM natürlich irgendwo anders fehlen. Diese WM hat völlig unnötige, sehr hohe Kosten und bezogen auf die Gesamtbevölkerung auf jeden Fall viel mehr Verlierer als Gewinner produziert. Das muss sich die brasilianische Regierung auch vorhalten lassen.

Wird das auch ernsthaft aufgearbeitet?

Ja, teilweise schon. Man darf nicht vergessen: Brasilien war fast 400 Jahre lang eine Sklavenhaltergesellschaft, erst 1985 war die Diktatur zu Ende. Hier passiert eine Menge - auch eine Menge an Lernprozessen. Man sollte Brasilien zugute halten, dass es sich auch als Gesellschaft weiterentwickelt trotz des schwierigen Erbes. Deswegen freut mich diese Protestbewegung in der Bevölkerung, sie ist für mich jetzt schon der Sieger der WM.

Der Sieger?

Ja, weil sie mich darin ermutigt, dass es ein demokratischeres, ein Ungleichheit wirklich als Problem angehendes Brasilien eben auch gibt. Und dass dieses Brasilien stärker werden kann. Darauf habe ich Hoffnung.

Quelle: ntv.de, Mit Dawid Danilo Bartelt sprach Christoph Wolf

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen