Schnellcheck: No Putin, no Party DJ Rakitic schockt die Russendisko
07.07.2018, 23:38 Uhr
Kroatenparty auf dem Rasen von Sotschi.
(Foto: dpa)
Wenig Fußball, viel Leidenschaft - reicht das? Nein, tut es nicht. Nicht für die russische Fußball-Nationalmannschaft. Die beendet ihr Heim-WM-Märchen mit einem Overtime-Krampf. Gewonnen hat die Mannschaft trotzdem.
Was ist im Fisht-Stadion von Sotschi passiert?
So, Gianni Infantino, der Mann, der Fußball so sehr liebt (kleiner Scherz), kann sein Sakko wieder anziehen. Der größte Schweißausbruch seiner Fifa-Karriere endete für den Präsidenten des Fußball-Weltverbandes mit einem dramatischen und noch emotionaleren Happy-End. Nämlich mit dem bitteren Viertelfinal-Aus der russischen Sbornaja bei der Heim-WM. Nach einem leidenschaftlichen K(r)ampf über 120 und ein paar mehr Minuten beendeten schwache russische Elfmeter und der coole Kroate Ivan Rakitic die wundersame Resozialisierung der vor dem Turnier noch verspotteten Nationalmannschaft (4:3 i.E., 2:2) - und Infantino die nächsten unangenehmen Nachfragen. Denn mitten hinein in die von Coach Stanislaw Tschertschessow und seinen Spielern entfachte Staatseuphorie im Wladimir-Putin-Reich, der umtriebige Präsident konnte wegen weltpolitischer Verpflichtungen nicht an der letzten Party der Russendisko teilnehmen, hatte sich das nationale Schandwort Doping geschlichen – und die Fifa als verantwortungsvollen Wächter mal wieder in Frage gestellt. Und das, liebe Trolle, haben nicht wir uns einfach mal so ausgedacht (siehe unten). Den Schaum vor Ihrem Mund können Sie (liebe Trolle) gerne unter #Russenbashing loswerden und #zsmmnschrbn.
Teams & Tore
Russland: Akinfejew - Fernandes, Kutepow, Ignaschewitsch, Kudrjaschow - Sobnin, Kusjajew - Samedow (54. Erokhin), Golowin (102. Dzagoev), Tscheryschew (67. Smolov) - Dschjuba (79. Gazinsky); Trainer: Tschertschessow
Kroatien: Subasic - Vrsaljko (97. Corluka), Lovren, Vida, Strinic (74. Pivaric) - Rakitic, Modric - Rebic, Kramaric (39. Kovacic), Perisic (63. Brozovic) - Mandzukic; Trainer: Dalic
Tore: 1:0 Tscheryschew (31.), 1:1 Kramaric (39.), 1:2 Vida (101.), 2:2 Fernandes
Elfmeterschießen: Elfmeterschießen: Subasic hält gegen Smolow, 0:1 Brozovic, 1:1 Dsagojew, Akinfejew hält gegen Kovacic, Fernandes schießt am Tor vorbei, 1:2 Modric, 2:2 Ignaschewitsch, 2:3 Vida, 3:3 Kusjajew, 3:4 Rakitic
Schiedsrichter: Sandro Ricci (Brasilien)
Zuschauer: 44.287 (Sotschi)
Gelbe Karten: Strinic (38.), Lovren (35.), Vida (102.), Gazinskiy (109.), Pivaric (114.)
Die No-Putin-no-Party-Party im Spielfilm
2. Minute: Ante Rebic so: Brudeeeeeeeeeeer was hier los! Die erste Aktion gehört, Obacht, den Russen. Also dem Team, über das sich hartnäckig das Gerücht hält, es könne keinen Fußball spielen. Artem Dsjuba setzt Denis Tscheryschew in Szene, der sich zentral gegen Dejan Lovren durchsetzt. Abschluss – vorbei, trotzdem Respekt. Die können ja auch Fußball.
31. Minute TOOOOOR FÜR RUSSLAND: UND WAS FÜR EINS! Tscheryschew schießt die Sbornaja mit einem Traumtor ins kurzfristige Glück. Und 44.287 Zuschauer im Fisht-Stadion eskalieren im Kollektiv. Die Entstehung wird der Stürmer FC Villareal wohl noch seinen Enkeln erzählen: Tscheryschew spielt einen Doppelpass mit Dsjuba, der Ball kommt zurück und titscht leicht auf, deswegen erwischt der Stürmer die Kugel so richtig satt - das Geschoss schlägt im linken oberen Winkel ein.
40. Minute TOOOOOR FÜR KROATIEN: Das hat die russische Abwehr im freudenvernebelten Tiefschlaf verpennt. Mario Mandzukic kommt über die linke Seite, hat gefühlte zehn Minuten Zeit, um im Hinterkopf die akkurateste Flugkurve zu berechnen, und legt passgenau für Andrej Kramaric auf. Der Hoffenheimer hält völlig gegenspielerbefreit den Kopf rein, Tor.
60. Minute: Riiiieeesen Torchance für Kroatien! Was genau da passiert ist, lässt sich erst in entschleunigter Kameraführung dechiffrieren: Kramaric bringt die Kugel hoch in den Fünfmeterraum, Mandzukic stolpert slapstickmäßig und geht zu Boden. Am Ende ist's Ivan Perisic, der den Ball aus zentraler Position an den Innenpfosten wummst. Tor? Nix da, das Leder guckt zwar Richtung Netz, fliegt aber parallel zur Linie raus aus dem Kasten. Weiter geht's mit Gleichstand, Entscheidung vertagt.
101. Minute TOOOOOR FÜR KROATIEN: Sehen wir hier etwa die Wiederholung des englischen Spiels? Das ist ja ein Treffer nach Standardsituation! Das Erfolgsversprechen scheint sich rumgesprochen zu haben, zumal die russische Abwehr der kurzzeitigen Verteidigungsamnesie erliegt. Domagoj Vida taucht plötzlich vor Akinfejews Tor auf – da haben die Russen nicht mit gerechnet. Die Kugel rutscht geschmeidig über den gewagt gestylten Schopf des Innenverteidigers und fliegt ins Netz. Naja, mehr ein Flügchen. Egal, trotzdem drin und die Verwarnung für den Trikot-Striptease gibt's gratis.
103. Minute: Können die Russen nochmal zurückkommen? Trainer Stanislaw Tschertschessow eskaliert jetzt völlig enthemmt aus seiner Komfortzone und fordert das Publikum auf, es ihm nachzutun. Und das von dem Mann, dem die Impulsivität einer Straßenlaterne nachgesagt wird. Ob's reicht?
115. Minute TOOOOOR FÜR RUSSLAND: Und wie das reicht! Russland ist back in the game! F*** die Henne, natürlich nach einer Standardsituation! Mário Figueira Fernandes (ja, echt – klassischer russischer Name) steigt nach Freistoß von Alan Dzagoev am höchsten und schickt den Ball per Kopf mitten ins kroatische Halbfinalherz.
120. Minute: Es. Gibt. Elfmeterschießen. Und. Das. Gewinnt. Kroatien.
Was war gut?
Hahahahahaha. So, nachdem wir uns das Kurzzeitgedächtnis aus den Knochen gelacht haben (liebe Mediziner, bitte verzichten Sie auf böse Mails), finden wir im Vorhof der Langzeiterinnerung doch noch ein paar Szenen, die dem Spiel WM-Ehren erweisen. So ging's eigentlich knackig los, weil die Russen ihre Ballbesitz- und Pressingweigerung aus der dramatischen Achtelfinal-Sensation gegen Spanien freiwillig aufgaben und einfach mal so mutig spielten, als wollten sie den nächsten WM-Hammer aktiv erzwingen. Doch spätestens nach dem hammer Hammer von Tscheryschew (31.) klöppelte sich die Sbornaja etwas zusammen, was in der Vorwärtsbewegung eher an einen Freitagmittag auf dem Amt erinnerte, als an WM-Wunderwille. Bevor Sie nun aber wieder #Russenbashing beklagen, Folgendes: So müde das Spiel in die Spitze war, so leidenschaftlich wurde die Lust am Verteidigen zelebriert. Über 120 Minuten verhinderten die Russen mit 148 gelaufenen Kilometern unermüdlich kroatische Torgefahr (trotz 15 offizieller Torschüsse). Richtig schlecht sahen sie dabei nur beim 1:1 durch Kramaric aus, als sie entweder ausrutschten, in die falsche Richtung oder gar nicht liefen. Der Pfostenschuss von Perisic kann dagegen passieren, der Kopfball von Vida war einfach gut. Und sonst so? Nun, wir haben den Vorhof nochmal abgesucht, aber ein kroatisches Highlight-Schnipsel haben wir nicht mehr gefunden. Und dem Elfmeterschießen könnten wir lediglich das ewige Label "spannend" aufkleben.
Was war schlecht?
LOL, das Elfmeterschießen. Dabei ist das Konzept ziemlich einfach. Anlaufen, und drauf damit. WAS ALSO ERLAUBE RUSKI??? Hier die Lektion wie es nicht geht in zwei russischen Varianten: 1. Der lässige Lupfer – biste dann nämlich der Depp, wenn der Keeper deine Kugel mindestens genauso spaßbefreit pariert wie gegen Smolov. 2. Der gezielte Schuss neben's Tor - Vollspann sieht gut aus und man sollte sich auch immer vor neue Herausforderungen stellen, aber WIESO NICHT EINFACH MAL NORMAL DRAUFZIEHEN? Alles mitgeschrieben? Gut.
Der Typ des Turniers
Stanislaw Tschertschessow entschädigt für alles. Für ein schlechtes Spiel. Für eine schlechte Prä-WM-Sbornaja. Für Löw'sche Gelassenheit. Für ausufernde Phrasenschwein-Füller. Stanislaw Tschertschessow ist der personifizierte Wahnsinn (gemeint in der höchsten Form der Anerkennung), der Saša Obradović des Fußballs. Die Zeitung "Sowetski Sport" adelte ihn mit den Zeilen: "Er ist wie ein Hooligan, den jeder nicht besonders mag, und der sich plötzlich in ein Mädchen aus einem benachbarten Hof verliebt und sich zum Besseren wendet." Tschertschessow ist mal General, mal Chefbetreuer der Sbornaja-Resozialisierung. Mit einer einfachen, aber zermürbenden Taktik des Abwartens und des langen Balls hat er die Mannschaft belebt, mit der entfachten Leidenschaft aus den Feinden (den Fans) Freunde gemacht. Fußball und Russland, das passt wieder zusammen. Die etwas schiefe Mär der schlechtesten WM-Mannschaft ist längst umgedichtet in neuen Nationalstolz.
Wie war der Schiedsrichter?
Sandro Ricci fügte den vielen sehr guten Schiedsrichterleistungen bei dieser Weltmeisterschaft eine weitere hinzu, befindet unser Schiedsrichterexperte Alex Feuerherdt von "Collinas Erben". Der Brasilianer hatte die intensive Partie jederzeit fest im Griff und überzeugte mit einer klaren Linie und viel Augenmaß bei der Zweikampfbeurteilung. Ahndete konsequent die taktischen Fouls der kroatischen Spieler Dejan Lovren und Ivan Strinic in der ersten Hälfte mit Gelben Karten. Das wirkte nachhaltig, der Unparteiische musste erst in der Verlängerung wieder zur Verwarnung greifen. Richtig, in der 100. Minute nicht auf Strafstoß für Russland zu erkennen, als Fedor Smolov nach einer geringfügigen Berührung von Lovren mehr freiwillig als gezwungenermaßen zu Boden ging. Verschaffte sich mit seiner eindrücklichen Körpersprache viel Respekt, beruhigte die Begegnung in hektischen Phasen schnell wieder. Insgesamt sehr souverän und stets nahe am Spielgeschehen, dabei in manchen Situationen allerdings mit unorthodoxem Positionsspiel und infolgedessen ab und zu hinderlich.
Die widerlegte Gastgeber-Serie
Nun, weil wir in unseren Besserwisser-Fakten darauf hingewiesen hatten und Sie nun vor einem peinlichen Theken-Fauxpas bewahren wollen, müssen wir die schwarze Gastgeber-Serie der Kroaten eiligst widerlegen. Das Team hatte bis zu diesem Abend in Sotschi bei zwei WM's gegen den Ausrichter gespielt und dabei zwei Niederlagen kassiert: 1998 gegen Frankreich (1:2 im Halbfinale) und 2014 gegen Brasilien (1:3 in der Gruppenphase). Geschichte. Aller guten Dinge sind ..., ja, wir werfen ja schon fünf Euro ins Phrasen-, ach wissen Sie was, wir werfen die Euronen direkt ins Thekenschwein. Machen Sie was draus!
Was sorgte für Aufregung?
Ein Foto der Ellenbeuge von Stürmer Artem Dschjuba. Die nämlich wies am Tag des russischen Achtelfinalsieges gegen Spanien eine kleine Einstichstelle auf. Das kann grundsätzlich Vieles bedeuten, im Zusammenhang mit der russischen Dopinghistorie aber auch Alarmierendes. Irritierend ist die Erklärung des Teams, das auf die Entnahme von "kapillärem und venösem Blut" für die Leistungsdiagnostik der Spieler verweist. Eine angebliche Routine-Prozedur – die laut "Süddeutscher Zeitung" bei Experten für allerhöchste Skepsis sorgt. Warum punktieren, statt ins einfach Ohrläppchen zu piksen, lautet die drängendste Frage. Gerade bei Dschjuba. Denn bei der WM fällt der Sturmriese neben viel Leidenschaft, seinen drei Toren und guten Ablagen für seine erstaunlich lauffreudigen Mitspieler durch einen ebenso erstaunlichen Leistungssprung mit WM-Beginn auf.
Der Tweet zum Spiel
Quelle: ntv.de