Der perfekte Elfmeter-Trainer Englands Notlösung Southgate wird gefeiert
07.07.2018, 13:09 Uhr
Er kam als Notlösung und ist längst der gefeierte Erneuerer.
(Foto: REUTERS)
Gareth Southgate kam eher durch Zufall in das Amt als englischer Fußball-Nationaltrainer. Jetzt gewinnt die Mannschaft sogar Elfmeterschießen bei der WM - und ist wieder beliebt. Ein Verdienst des 47-Jährigen.
Im Leben können die erstaunlichsten Dinge passieren, das war Gareth Southgate schon vor dem WM-Achtelfinale gegen Kolumbien bewusst. Englands Fußball-Nationaltrainer steht immer bestens gekleidet in seiner Coaching-Zone, zum blauen Hemd und der Krawatte trägt er eine dunkle Weste und hat damit einen Trend ausgelöst. Seit Beginn des Turniers ist der Absatz dieser Westen in England angeblich um 35 Prozent gestiegen, sehr zur Verwunderung Southgates. "Ich kenne meine Stärken und weiß, dass ich kein David Beckham bin", sagte er vor der Partie gegen Kolumbien im lockeren Gespräch mit der BBC und meinte damit, dass er eigentlich keine Mode-Ikone sei. Aber gut, jetzt ist er eben doch eine: "Das zeigt, dass im Leben alles möglich ist."
Alles ist möglich, mit diesem Geist führt der 47 Jahre alte Übungsleiter sein Team durch die Veranstaltung in Russland. Im Achtelfinale gegen Kolumbien wurde diese Herangehensweise mit Leben gefüllt. Die Engländer kassierten in der Nachspielzeit den Ausgleich zum 1:1, die Partie ging ins Elfmeterschießen. Und anstatt wie gewohnt zusammenzubrechen unter dem Druck der speziellen Situation, gewannen sie zum ersten Mal überhaupt bei einer WM die Nervenschlacht vom Elfmeterpunkt und zogen ins Viertelfinale gegen Schweden (ab 16 Uhr im n-tv.de Liveticker) ein. Die Engländer haben dank Southgate ein Trauma besiegt, an dessen Entstehung er selbst mitgewirkt hatte.
Mehr Gelassenheit beim Elfmeter
Bei der Heim-EM 1996 war er im Halbfinale gegen Deutschland mit dem entscheidenden Versuch am damaligen DFB-Torwart Andreas Köpke gescheitert. Der Name Southgate steht seitdem synonym für das englische Versagen aus elf Metern. "Damit muss ich für immer leben", sagt er noch heute über seinen Fehlschuss. Und er hat natürlich Recht: die Vergangenheit kann er nicht umkehren. Aber er kann die Erfahrung nutzen, um eine bessere Zukunft zu gestalten. In der Vorbereitung auf die WM hat er alles getan, um zu verhindern, dass Englands aktuelle Mannschaft das gleiche Schicksal erleidet wie Generationen vor ihr, wie er selbst.
Während der damalige Trainer Terry Venables ihn angeblich erst in den Minuten vor dem Elfmeterschießen gegen Deutschland gefragt habe, ob er sich einen Versuch zutraue, hat Southgate seine Schützen in Russland schon weit vor dem Turnier festgelegt. Seine Mitarbeiter haben Englands Elfmeterschießen der vergangenen Jahre analysiert und zum Beispiel festgestellt, dass die Spieler immer ziemlich hastig bei ihren Schüssen gewesen seien. Southgate brachte seiner Mannschaft deshalb bei, sich Zeit zu lassen beim Weg von der Mittellinie zum Punkt, beim Zurechtlegen des Balles und beim Anlauf. Torwart Jordan Pickford hatte beim Elfmeterschießen gegen Kolumbien eine Trinkflasche dabei, auf der Hinweise zu den gegnerischen Schützen geschrieben standen.
Neue Lockerheit fürs Team
Das alles ist Bestandteil dessen, was Southgate "owning the process" nennt, also: die Kontrolle über das Geschehen erlangen. In einer Situation, die stark vom Zufall bestimmt ist, will er zumindest das, was sich vorbereiten lässt, so gut vorbereiten wie möglich. Er bezieht das konkret aufs Elfmeterschießen aber auch ganz grundsätzlich auf seine Arbeit. Southgate ist keiner dieser englischen "Blut, Schweiß und Tränen"-Trainer, sondern operiert mit viel Liebe zum Detail. Gleichzeitig will er seinen jungen Profis das Dasein als Vertreter des Königreichs so leicht wie möglich machen. Er will ihnen so gut es geht den Druck nehmen, den es eben bedeutet, für England zu spielen, das Mutterland des Fußballs, den Weltmeister von 1966, der sich so sehr nach dem zweiten Titel sehnt. Anstatt mit Angst sollen seine Profis mutig auftreten und sich Dinge trauen. "Man sollte im Leben nicht bereuen müssen, dass man etwas nicht versucht hätte", sagt er.
Southgate kam im Herbst 2016 aus Mangel an Alternativen ins Amt, nachdem Sam Allardyce, ein Vertreter der alten englischen Trainer-Garde, auf Undercover-Reporter reingefallen war und seinen Posten nach nur einem Spiel aufgeben musste. Der neue Mann hat der Nationalmannschaft einen frischen Anstrich verpasst. Er hat altgediente Profis wie Wayne Rooney oder Torhüter Joe Hart aussortiert, ist von der heiligen Vierer-Abwehr abgerückt und hat ein Klima der Leichtigkeit und Offenheit geschaffen. Während sich Englands Team bei vergangenen Turnieren von der Außenwelt abgeschottet hat, treten die Nationalspieler bei der WM in Russland in ihrem Quartier in Repino regelmäßig im Dart gegen Journalisten an. Dass Fotos davon in die Welt gelangen, wie sich die Spieler im Swimmingpool ein Rennen mit aufblasbaren Einhörnern liefern, wäre in der Vergangenheit vermutlich genau so unmöglich gewesen wie kürzlich das öffentliche Bekenntnis von Verteidiger Danny Rose, dass er im vergangenen Jahr unter schweren Depressionen gelitten hätte.
Southgate ist es gelungen, die Nationalmannschaft wieder nett zu machen, er hat wieder eine Verbindung hergestellt zwischen ihr und den Menschen in England. Und er ist selbst zu einem gefeierten Mann geworden, im Internet und auf den Straßen. Die Fans haben das Lied "Whole again" von Atomic Kitten mit einem Text auf ihn versehen. Am Ende heißt es: "Football's coming home again." Der Fußball kommt nach Hause, England wird Weltmeister. Doch selbst, wenn das nicht gelingt, hat Southgate Erstaunliches geleistet. Er hat das englische Publikum wieder für die Nationalmannschaft begeistert. Und natürlich das Elfmeter-Trauma besiegt.
Quelle: ntv.de