Historische Olympia-Krise Die Excel-Tabelle legt den deutschen Spitzensport lahm

Weitsprung-Star Malaika Mihambo gewann eine von nur vier deutschen Medaillen in der Leichtathletik.

Weitsprung-Star Malaika Mihambo gewann eine von nur vier deutschen Medaillen in der Leichtathletik.

(Foto: IMAGO/Moritz Müller)

Die Olympischen Spiele in Paris enden, die deutsche Delegation hat ihr Mindestziel erreicht. Wirklich zufrieden scheint im deutschen Sport jedoch niemand zu sein. Erklärungsansätze gibt es beinahe mehr als gewonnene Medaillen. Klar ist nur: Bis Los Angeles 2028 wartet eine ganze Menge Arbeit.

Fünf, sechs, fünf, sechs, fünf, neun. Hinter den sechs Ziffern versteckt sich nicht etwa die Durchwahl zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), sondern die Platzierungen Deutschlands im Medaillenspiegel der Olympischen Sommerspiele seit 2000. Jüngst kommt in Paris noch ein zehnter Platz dazu. Es ist das schlechteste Abschneiden seit 1952, die 33 Medaillen sind die wenigsten seit der Wiedervereinigung. Die Zeichen stehen auf Abwärtstrend.

Erklärungsansätze gibt es viele. "In vielen Ländern bietet der Sport die Möglichkeit, die soziale Leiter hochzusteigen. Bei uns ist das verloren gegangen. Diese Bereitschaft, sich den Arsch aufzureißen, fehlt mir", sagte der Ehrenpräsident des FC Bayern, Uli Hoeneß. Und führte weiter aus: "In unserem Land muss wieder mehr Leistung in den Vordergrund gestellt werden. Wir müssen wieder mehr arbeiten, dann hat man auch mehr Erfolg." Vor den Spielen schrieb Robert Harting in der "Sports Illustrated", dass man sich "für Leistung bei uns fast schämen muss".

Aber stimmt das? Haben junge Menschen tatsächlich einfach keine Lust mehr auf Spitzensport? "Die Breite ist nicht das Problem. Unsere Schule ist rammelvoll, nicht ein Bett ist mehr frei", sagt Matthias Jackisch im Gespräch mit ntv.de. Früher war er Trainer und Sportlehrer, heute ist er Schulleiter des Landessportgymnasiums Leipzig. "Unsere Schüler heute unterscheiden sich nicht von denen, die 2008 eingeschult wurden. Wir merken natürlich, dass die Zeitfresser drumherum andere sind. Smartphones zum Beispiel, da setzen wir viel auf die Vermittlung von Medienkompetenz. Wir können aber nicht feststellen, dass sich an der Grundeinstellung zum Leistungssport etwas geändert hat", betont er.

"Studium und Spitzensport ist in Deutschland immer ein Kompromiss"

Und dennoch passen die Resultate nicht mehr. "Wenn ich alles andere ausklammere und mich nur auf die Klassen 5 bis 13 konzentriere, ist die Welt in Ordnung. Wir bieten hier optimale Bedingungen", sagt Jackisch. "Das Problem beginnt eher, wenn sie die Schule verlassen. Das Zusammenspiel aus Studium und Spitzensport ist in Deutschland immer ein Kompromiss."

Es ist ein strukturelles Problem, denn es bleiben nicht viele Alternativen. Neben einem klassischen Studium oder einer Ausbildung (von denen es explizit für Spitzensportler nur einige wenige gibt) gehen deshalb viele Athletinnen und Athleten zur Bundeswehr. Ein Drittel aller deutschen Olympia-Starter in Paris sind beim Bund, hinzu kommen noch mehr als ein Dutzend, die ihr Geld bei der Bundespolizei verdienen. Das Problem ist jedoch, dass diese Plätze nicht nur begehrt, sondern vor allem auch begrenzt sind.

Nicht wenige deutsche Sportler suchen deswegen den Weg ins Ausland - so wie Silbergewinner Leo Neugebauer. Der Zehnkämpfer steht stellvertretend für mehrere seiner Disziplin, die an einer US-Universität studieren und dort ihrem Sport nachgehen. Die beiden Basketball-Spielerinnen Lina Sontag und Emily Bessoir spielen in der vergangenen Saison für die University of California. Schwimmerin Nicole Maier pflügt, wenn nicht gerade Olympia ist, für die Miami University durchs Wasser. Vor allem durch den gigantischen Markt des College-Footballs haben Universitäten in den USA deutlich mehr finanzielle Mittel als deutsche Hochschulen.

Doch Geld ist nicht nur bei der Ausbildung ein Thema. Die unterschiedliche Priorisierung von Spitzensport zeigt sich auch im Erfolgsfall. Für eine Gold-Medaille erhält ein deutscher Athlet 20.000 Euro. In Frankreich sind es rund 80.000 Euro, in Serbien 201.000 Euro, China lässt sich jeden ersten Platz auf dem Treppchen sogar 690.000 Euro kosten.

"Wir schreiben Excel-Tabellen, die anderen trainieren"

Auch personelle Probleme plagen den deutschen Sport der vergangenen Jahre. "Es gibt einen absoluten Trainermangel, das kann ich für jede der 17 Sportarten, die wir haben, unterschreiben", sagt Schulleiter Jackisch. "Das liegt natürlich an der Struktur des Berufs an sich. Trainiert wird in der Woche, Wettkämpfe gibt's am Wochenende. Das ist nicht sonderlich familienfreundlich. Und das Ganze zu einem nicht sonderlich kompetitiven Gehalt. Da muss man schon sehr viel Leidenschaft mitbringen."

Erleichtert wird das nicht durch die typisch deutsche Bürokratie, die vielen Aktiven und Trainern sauer aufstößt. "Wir schreiben Excel-Tabellen, die anderen trainieren. Und das kann nicht sein", schimpfte beispielsweise Jörg Bügner, Sportvorstand des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).

Die Problemlage hat auch DOSB-Präsident Thomas Weikert erkannt. "Es gibt Handlungsbedarf auf vielen Ebenen. Wir benötigen mehr Trainer und eine bessere Besoldung der Trainer. Das versuche ich seit vielen Jahren voranzubringen. Es ist noch nicht ganz gelungen", sagte er im ZDF. Das Fazit des DOSB fällt gemischt aus: Das Mindestziel, das Erreichen einer Top-Ten-Platzierung im Medaillenspiegel, wurde geschafft. Team D kann in Paris sogar mehr Gold-Medaillen vorweisen, als noch vor drei Jahren in Tokio.

Positiv vor allem der Mannschaftssport

Insgesamt jedoch ist die Edelmetall-Ausbeute geringer geworden. Fechter, Sportschützen, Ringer und Segler blieben medaillenlos, dazu gesellt sich ein historisch schwaches Radteam. Die Schwimmer bleiben ungefähr auf dem Niveau der Vorjahre. Man könnte spotten, dass es viel tiefer auch nicht mehr geht. Einmal Gold, einmal Bronze im Becken, dazu kommt Silber durch Oliver Klemet im Freiwasser.

Die Leichtathleten bestätigten mit drei Medaillen ebenfalls die Ausbeute der jüngeren Vergangenheit. 2012 waren es mit acht Medaillen zuletzt mehr gewesen. Harting merkte in seinem Kommentar bereits vor den Spielen an: "Wir können froh sein, dass es die Förderung in der Leichtathletik überhaupt gibt. Aber Fakt ist, dass 60 bis 70 Prozent der Fördergelder, die wir haben, für die Strukturen im Leistungssport ausgegeben werden. Strukturen, die in der Leichtathletik nachweislich keine Medaillen mehr produzieren."

Doch es gab auch Positives. Weiterhin sehr stark ist Deutschland in den Mannschaftssportarten. Silber für die Hockey- sowie Handball-Herren und das Beachvolleyball-Duo Ehlers/Wickler. Zum Abschied von Horst Hrubesch konnten die Fußball-Frauen gegen den Weltmeister aus Spanien Bronze gewinnen. Dazu bestätigt sich auch bei Olympia die Tendenz, dass in Deutschland eine Basketball-Macht schlummert. Die Weltmeister der Männer erreichen erstmals das olympische Halbfinale und werden letztlich Vierter, die Frauen scheitern im Viertelfinale an Gastgeber Frankreich, schlagen in der Gruppenphase jedoch auch Europameister Belgien. Und die 3x3-Damen gewinnen gar die erste Medaille für den deutschen Basketball überhaupt, und dann direkt eine goldene. Auch die deutschen Erfolgsgaranten auf dem Pferd und im Kanu lieferten in Paris ab.

"Wir wollen alle Medaillen"

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Fernab der sportlichen Bilanzen wuchs mit der Begeisterung vor Ort und vor dem Fernseher in Deutschland auch die Chance, das olympische Feuer bald hierzulande wieder entzünden zu dürfen. Kanzler Olaf Scholz hat sich bei seinen Besuchen in Paris auch mit Athleten unterhalten - und musste sich besonders bei den Kanuten einige Misstöne anhören. Und dennoch: Die Regierung befürwortete die Absicht, sich 2036 oder 2040 um die Spiele zu bewerben. Der Spitzensport in einem Ausrichtungsort profitiert fast immer von Olympia. Das beobachtet auch Jackisch. Er spricht sich jedoch dafür aus, vorher die eigene Erwartungshaltung zu klären.

"Wenn wir mal 10, 15 Jahre vorausschauen, wird die große Frage sein, wie die Gesellschaft zum Leistungssport positioniert ist. Wir wollen alle Medaillen. Dafür kommen dann zwar Reformen, doch es gibt von der Verbandsseite keine klare Linie. Man sieht, was Olympia in Paris im Vorfeld bewirkt hat, in London war es genauso. Da stand Spitzensport plötzlich auf der Prioritätenliste. Das müsste in Deutschland auch passieren. Oder man entscheidet sich dafür, dass es sinnvoller ist, die Ressourcen in den Breitensport zu stecken. Wir müssen uns dann jedoch damit abfinden, 15. oder 16. im Medaillen-Ranking zu sein."

Quelle: ntv.de

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