Im Plattenbau an Charkows Stadion Mit Löw auf Elonikas Balkon

Blick aus Elonikas Wohnung auf das Stadion.

Blick aus Elonikas Wohnung auf das Stadion.

(Foto: Stefan Giannakoulis)

Einen Steinwurf vom Stadion im ukrainischen Charkow entfernt wohnt unser Korrespondent und wartet darauf, dass Joachim Löw und seine Spieler ihn besuchen. Falls sie nach der Partie gegen die Niederlande noch Zeit finden. Elonika und ihre Gastfreundschaft hat er mittlerweile kennengelernt.

Sie sollten vorbeikommen, ist nicht weit, fünf Minuten zu Fuß. Raus aus dem Stadion, vor dem Supermarkt links ab, über den Spielplatz, wo drei alte Frauen mit Kopftüchern auf der Bank sitzen und ein Schwätzchen halten, eine kleine Oase zwischen den grauen, 16-stöckigen Plattenbauten. Dann mit dem Aufzug in den achten Stock - und schon wären Philipp Lahm und seine Kollegen in Elonikas Wohnung. Und Bundestrainer Joachim Löw könnte ja aufpassen, dass die Jungs keinen Quatsch machen und den ganzen Schnaps aus dem Schrank im Wohnzimmer trinken. Vom Balkon aus jedenfalls hätten sie über die hochgewachsenen Birken hinweg freie Sicht auf das Metalist-Stadion, in dem sich heute Abend mehr als 40.000 Menschen ein Fußballspiel ansehen werden.

Löw und Flick beim Training im Metalist-Stadion.

Löw und Flick beim Training im Metalist-Stadion.

(Foto: picture alliance / dpa)

Hier in Charkow spielt die deutsche Nationalmannschaft gegen die Niederländer, es ist ihre zweite Partie bei dieser Europameisterschaft, es geht darum, mit einem Sieg das Viertelfinale zu erreichen. Und da Fußballspielen ihr Beruf ist, haben die Profis keine Zeit für einen Ausflug, sie müssen sich auf die Partie konzentrieren. Und ehrlich gesagt: Ich habe sie auch gar nicht gefragt. Aber der Gedanke ist reizvoll, sie könnten sehen, wo sie hier sind. Denn zwischen Elonikas Wohnung und dem Ort, auf den heute Millionen von Fernsehzuschauer blicken, liegt zwar einerseits nur ein Spaziergang, aber andererseits auch Welten.

In Elonikas Welt spielt es eine tragende Rolle, den Gast aus Deutschland zu empfangen. Nach einem regen E-Mail-Austausch - sie auf Russisch, ich auf Englisch - finden wir uns schließlich. Sie hat zwar nicht das versprochene Schild mit meinem Namen darauf um den Hals, aber als ich aus der U-Bahn-Station Sportivna am Stadion steige, steht sie dort, mit einem Schulheft in der Hand. Elonika spricht meine Sprache nicht und ich nicht ihre, aber sie hat sich vorbereitet. In dem Heft hat sie wichtige Sachen auf Englisch notiert. "Herzlich Willkommen in Charkow!" - "Sie können in dem Supermarkt Lebensmittel kaufen." - "Wir haben eine Waschmaschine." Und: "Vom Balkon aus sehen Sie das Stadion."

Die drei Damen werden immer lauter

Auf der Fanmeile in Charkow.

Auf der Fanmeile in Charkow.

(Foto: dapd)

Ansonsten plappert sie auf dem Weg fröhlich auf Russisch. Und als sei eine Frau, die ich nicht verstehe, nicht anstrengend genug, warten in der Wohnung ihre Mutter und ihre Tochter. Da stehe ich nun, nach achteinhalb Stunden im Zug von Kiew hierhin verschwitzt, müde und etwas ratlos, während die drei Damen immer lauter reden, Türen aufreißen, Lampen an- und ausschalten, mir zeigen, wie man einen Wäscheständer ausklappt, die Klospülung betätigt und dass das W-Lan funktioniert. Ich hatte ein Apartment zur Miete erwartet - und bekomme die ganze Wohnung, drei Zimmer, drei Fernseher, Parkett, Küche, Bad und Toilette. Elonika und ihre Familie räumen für drei Tage das Feld.

Es wäre also Platz genug, Philipp Lahm könnte mit Bastian Schweinsteiger auf dem soliden Doppelbett im dem einen Schlafzimmer übernachten, Manuel Neuer und Mats Hummels in dem anderen. Keine Sorge: Es gibt getrennte Matratzen. Und für Thomas Müller wäre noch Platz auf der Couch im Wohnzimmer mit den Familienfotos auf der Anrichte und dem goldenen Kronleuchter an der Decke. Sie müssten sich nur vorher die Schuhe ausziehen, darauf besteht Elonika. Vorher könnten wir uns auf die Bank in der Küche quetschen, Wasser im Kessel auf dem Gasherd kochen, Tee trinken und probieren, was das in den vielen Einmachgläsern ist, die im Kühlschrank stehen. Ella, wie ich sie nennen darf, hat mir das erlaubt.

Wir könnten darüber reden, wie das so ist als Fußballer, der mit seiner Mannschaft in einem noblen Hotel in Danzig wohnt und nur für ein Spiel hierhin in die mit anderthalb Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt der Ukraine fliegt. Darüber, dass Elonika und ihre Familie für 100 Euro ihre Wohnung einem Fremden geben, während nebenan ein Stadion steht, das der Oligarch und Präsident des Fußballklubs Metalist Charkow für 30 Millionen Euro hat umbauen lassen. Und darüber, dass Alexander Jaroslawski auch dafür gesorgt hat, dass diese Industrie- und Universitätsstadt in der Nähe der Grenze zu Russland nun einen neuen Flughafenterminal und ein Fünfsternehotel im Zentrum hat. Glaubt man dem Milliardär, hat er mindestens als 240 Millionen Euro ausgegeben, um die Stadt auf die EM vorzubereiten.

Vielleicht wissen Philipp Lahm und seine Kollegen das schon alles. Oder vielleicht interessiert sie das auch nicht allzu sehr, schließlich sind sie beschäftigt, sie sind hier, um Europameister zu werden. Es bleibt aber ein reizvoller Gedanke. Und Joachim Löw könnte sogar heimlich auf dem Balkon eine Zigarette rauchen, mit Blick auf das Metalist-Stadion. Elonika hat extra einen Aschenbecher hingestellt.

Quelle: ntv.de

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