Wirtschaft

Frühwarnsystem gegen Schuldenspeck EU ruft zum Gleichgewichtstest

Sind sie zu stark, bist du zu schwach: Die EU will die Wirtschaftsentwicklung in ihren Mitgliedsstaaten auf Linie bringen.

Sind sie zu stark, bist du zu schwach: Die EU will die Wirtschaftsentwicklung in ihren Mitgliedsstaaten auf Linie bringen.

(Foto: REUTERS)

Europas Stabilitätswächer packen die Trillerpfeife aus. Mit Fitnesstests für wichtige Wachstums-Kennziffern will Brüssel Schwachstellen früher erkennen, um rechtzeitig gegenzusteuern. Dank Deutschland wird in den Frühwarnberichten jedoch mit zweierlei Maß gemessen.

Mit nichts weniger als einem Sixpack wollen die EU-Staaten gegen wachsende Schuldenberge ankämpfen. So taufte Brüssel im Herbst 2011 ein Paket von sechs Maßnahmen, das den europäischen Stabilitätspakt verschärft und den Defiziten den Kampf ansagen soll. Einer der sechs kräftigen Muskeln soll dabei ein Frühwarnsystem gegen wachsenden Ungleichgewichtssinn sein - anders gesagt: ein regelmäßiger Check, ob sich wichtige wirtschaftliche Kennziffern in Europa auseinanderbewegen und damit ungesunde Spätfolgen nach sich ziehen.

Mit zehn Ziffern zum Gleichgewicht

- Der Leistungsbilanzsaldo der vergangenen drei Jahre soll im Durchschnitt zwischen -4 Prozent und +6 Prozent des BIP liegen.

- Die Verschuldung im Ausland - das negative Nettoauslandsvermögen - soll nicht über 35 Prozent des BIP liegen.

- Die Exportanteile sollen innerhalb von fünf Jahren nicht um mehr als 6 Prozent sinken.

- Die Lohnstückkosten sollen innerhalb von drei Jahren für Euro-Staaten um nicht mehr als 9 Prozent steigen, für alle übrigen EU-Staaten um nicht mehr als 12 Prozent.

- Die realen effektiven Wechselkurse sollen im Vergleich zu 35 weiteren Industriestaaten für Euro-Länder um nicht mehr als 5 Prozent nach oben oder unten schwanken, für alle übrigen EU-Staaten um nicht mehr als 11 Prozent.

- Die Verschuldung des Privatsektors soll nicht über 160 Prozent des BIP liegen.

- Die Kreditvergabe an den privaten Sektor soll 15 Prozent des BIP nicht überschreiten.

- Die Immobilienpreise sollen im Vergleich zu den Verbraucherpreisen um nicht mehr als 6 Prozent nach oben abweichen.

- Die Verschuldung des Staatssektors soll bei maximal 60 Prozent des BIP liegen.

- Die Arbeitslosenquote soll im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre nicht über 10 Prozent liegen.

So läuft der Test ab: Zehn Indikatoren sollen regelmäßig auf den Prüfstand gestellt werden. Laufen die Daten eines Landes erkennbar aus dem Ruder, rücken Prüfer an. Ob das passiert, hängt grundsätzlich an festen, eindeutigen Schwellenwerten, doch haben sich die Staaten ein Hintertürchen in der Größe eines Scheunentors eingebaut: Entscheidend ist, ob die Europäische Kommission in diesen Abweichungen ein Problem sieht. Sie nimmt nämlich eine ökonomische Untersuchung der Zahlen vor. Im Einzelnen prüft sie dabei zehn Indikatoren darauf, inwieweit sie möglicherweise auf schädliche Weise bestimmte Schwellenwerte überschreiten (siehe Box).

Sieht die Kommission in einer Verletzung von Schwellenwerten einen Anhaltspunkt für wirtschaftliche Unwuchten, nehmen sich Prüfer der EU das Land näher zur Brust und erstellen eine detaillierte Analyse. Treten dabei ernsthafte Risiken für wirtschaftliche Ungleichgewichte durch das Land zu Tage, wird ein Verfahren eingeleitet. Für die Entscheidung darüber gibt die EU-Kommission zwar eine Empfehlung, den endgültigen Beschluss fällt aber der Europäische Rat - also Europas Staats- und Regierungschefs. Damit ist auch diese Hürde eine in erster Linie politische Entscheidung.

Dass dies keine virtuelle Diskussion ist, zeigt die harte Position Deutschlands beim Verhandeln der Details des Sixpacks. Auf Druck von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wurde die Schwelle für Exportüberschüsse von 4 auf 6 Prozent erhöht - zur Beruhigung des Exportmeisters. Leistungsbilanzdefizite sind jedoch bereits ab 4 Prozent ein Problem.

Immer wieder Pläne

Bis zu möglichen Sanktionen, die das Verfahren vorsieht, ist der Weg aber noch weit. Zunächst muss das Land auf Vorschlag der EU-Kommission innerhalb von zwei Monaten einen konkreten Zeitplan vorlegen, wie es die Ungleichgewichte abbauen will. Reichen die Vorhaben den Prüfern nicht aus, muss das Land nachbessern. Dafür hat es weitere zwei Monate Zeit.

Auch bei der Überprüfung, wie das Land mit der Umsetzung seines Plans vorankommt, liegt das letzte Wort bei Europas Staats- und Regierungschefs. Sehen sie den Ausreißer auf gutem Wege, ruht das Verfahren, bis die Ungleichgewichte beseitigt sind. Reichen die Resultate hingegen nicht aus, folgt zunächst eine Art Warnschuss. Dann greifen neue Fristen, innerhalb derer Ergebnisse auf dem Tisch liegen müssen. Erst wenn ein Land hier erneut pfuscht und nach dem Urteil des Rates hinter seinen Verpflichtungen bleibt, zündet die nächste Eskalationsstufe - eine als Meilenstein gefeierte "halbautomatischen" Sanktion.

Schritt für Schritt zum Bußgeld: das Überwachungsverfahren der EU in Kurzform.

Schritt für Schritt zum Bußgeld: das Überwachungsverfahren der EU in Kurzform.

(Foto: n-tv.de / Quelle: Deutsche Bundesbank)

Noch geht es für das Land nicht gleich um ein Bußgeld, sondern um eine Einlage in Höhe eines möglichen späteren Bußgeldes - also eine Art Bußgeld-Kaution, die verzinst wird. Beachtlich ist der Ablauf für eine solche Einlage aber deshalb, weil erstmals die Staats- und Regierungschefs nicht zustimmen müssen. Stattdessen fällt die EU-Kommission den Beschluss. Er kann jedoch vom Europäischen Rat innerhalb von zehn Tagen widerrufen werden. Diese Umkehr bisheriger Beschlusspraxis wird als halbautomatische Sanktion bezeichnet.

Die Höhe der Einlage, die im letzten Eskalationsschritt als Bußgeld einbehalten wird, liegt bei 0,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Für Deutschland mit einer jährlichen Wirtschaftsleistung von zuletzt 2,57 Billionen Euro würde dies zum Beispiel eine Strafzahlung von rund 2,5 Milliarden Euro bedeuten. Kleiner Trost für notorische Gleichgewichtsverweigerer: Das Bußgeld fließt direkt in den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM.

Ist die Einlage erst einmal eingefordert, muss dem sanktionierten Land noch zwei weitere Male vom Rat bescheinigt werden, mit seinen Anstrengungen zum Abbau der Ungleichgewichte zu wenig geleistet zu haben. Erst dann, nach insgesamt mindestens sechs negativ gefällten Urteilen des versammelten politischen Europa, würde schließlich ein Bußgeld fällig und die Einlage wäre verloren. Für die selbsternannten Fitness-Gurus in Brüssel bedeutet das viel Gestaltungsspielraum auf dem Weg zum Sixpack.

Quelle: ntv.de

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