Charité machte es NRW vor Entlastungspunkte könnten 300.000 Jobs bringen
20.07.2022, 21:46 Uhr
In NRW streikte das Pflegepersonal zweieinhalb Monate lang - sie erkämpften sich das Recht auf Entlastung, wie es an der Charité in Berlin schon praktiziert wird.
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
77 Tage kämpften die Pflegekräfte der Unikliniken in NRW für mehr Entlastungen. Mit Erfolg: Sie werden nun entschädigt, wenn sie sich um zu viele Patienten kümmern müssen. Wie das funktioniert, zeigt der Fall einer Pflegerin an der Berliner Charité.
Für Sophie Radke ist es auf der Kinderkrebsstation der Berliner Charité ein guter Tag. Gemeinsam mit vier weiteren Pflegekräften, einer Erzieherin und einer Servicekraft muss sie heute die 14 kleinen Patienten versorgen. Ein guter Schnitt. Da bleibt auch mal Zeit für ein Gespräch mit den kranken Kindern und ihren Eltern.
Doch nicht jeder Tag ist so: Manchmal fallen Kolleginnen und Kollegen aus oder es kommen ungeplante Notfälle rein. Dann gehe das Menschliche verloren, sagt Sophie. Das nage dann auch nach der Schicht noch an ihr. Sie habe dann oft das Gefühl, sie konnte gar nicht mit den Patienten, für die sie so wichtig ist, reden. "Ich möchte nicht, dass die denken, sie sind mir egal", sagt die gelernte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin. Dann entstünden Stress und die Unzufriedenheit, den Patienten nicht gerecht geworden zu sein.
Seit Beginn des Jahres werden solche Belastungssituationen in der Charité systematisch erfasst. Sophie geht an den Computer, loggt sich ein. Eine Seite baut sich auf. "CHEP-Kontostand" steht da und "erworbene CHEP: 10". CHEP - das steht für "Charité-Entlastungspunkte". Einen Entlastungspunkt bekommen die Pflegekräfte, wenn sie in fünf Schichten zu viele Patienten betreut hatten. Sophie hat in diesem Jahr also schon jetzt in 50 belasteten Schichten gearbeitet.
Auch in NRW soll es Entlastungspunkte geben
Damit war das Berliner Krankenhaus Vorbild für Unikliniken in Nordrhein-Westfalen. Dort ging gerade ein 77-tägiger Streik zu Ende - einer der längsten der Krankenhausgeschichte. Die Pflegenden dort erkämpften sich ebenfalls das Recht, Entlastungspunkte sammeln zu dürfen.
Wann eine Belastung entsteht, ist je nach Station unterschiedlich. Auf der Intensivstation soll eine Pflegekraft pro Schicht nicht mehr als 1,8 Patienten versorgen. Auf der Normalstation für Erwachsene wird es zu viel, wenn eine Pflegekraft mehr als zehn Patienten in der Früh- und Spätschicht und mehr als 15 in der Nachtschicht betreuen muss.
Carla Eysel ist Vorständin der Charité und dort zuständig für Personal und Pflege. Mit der Einführung des CHEP-Systems gab es zum ersten Mal eine objektive Messung der Belastung. Die sei hoch, sagt Eysel. Es sei aber gut, dass es jetzt endlich Transparenz gebe. Auch Personallücken würden jetzt deutlich. "Wir denken, dass wir so um die 180 Pflegekräfte im Jahr zusätzlich brauchen, um dann am Ende die richtige Besetzung im Sinne des Tarifvertrags zu bekommen", sagt Eysel.
Hoffnung auf Azubis und Rückkehrer
Auf lange Sicht, könnte so eine Entlastung dazu führen, dass mehr Pflegekräfte rekrutiert werden: Wenn der Job attraktiver wird, entscheiden sich vielleicht mehr junge Menschen für eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegkraft, so die Hoffnung. Außerdem könnten sich ausgestiegene Pflegekräfte dazu entscheiden, in den Job zurückzukehren oder Teilzeit wieder aufzustocken. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung errechnete ein Potenzial von mindestens 300.000 Vollzeitstellen, durch Job-Rückkehrer und Teilzeit-Aufstocker.
Kinderkrankenpflegerin Sophie Radke kann ihre Entlastungspunkte nun einlösen und sich entscheiden, ob sie Freizeit dafür haben will, eine Auszahlung oder zum Beispiel eine Urlaubsbeihilfe von 156 Euro. Die Charité arbeitet obendrein an der Möglichkeit, die Entlastungspunkte für Sabbaticals anzusparen. Sophies Pflegedienstleiter Kevin Bartsch - auch zuständig für die Dienstpläne auf der Kinderonkologie - erzählt, einige Kollegen nutzten die so erworbene Freizeit für Weiterbildungen. Sophie hat bislang 5 Entlastungspunkte eingelöst und wird bald ein paar Tage freihaben - was sie dann genau macht, weiß sie noch nicht genau. Vielleicht Wegfahren für ein verlängertes Wochenende, sagt sie und lächelt.
Quelle: ntv.de