Wirtschaft

Wachstumsdämpfer, politische Proteste, Börsen-Schock Stürzt der "Überflieger vom Bosporus" ab?

Proteste in Istanbul: Die Regierung spricht von "!westlichen" Mustern und sieht keine Verbindung zum arabischen Frühling.

Proteste in Istanbul: Die Regierung spricht von "!westlichen" Mustern und sieht keine Verbindung zum arabischen Frühling.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

2010 wächst die türkische Volkswirtschaft um 9,2 Prozent, 2011 um 8,5 Prozent. Experten sprechen vom "Wirtschaftswunderland" Türkei. Doch im vergangenen Jahr dann der Dämpfer: Das Bruttoinlandsprodukt klettert nur noch um 2,5 Prozent. Die Spannungen im Land verunsichern die internationalen Investoren zusätzlich. Ist der Boom damit vorbei?

Die heftigen Demonstrationen gegen die türkische Regierung haben Anleger weltweit verunsichert. Zwar hat sich die Börse in Istanbul von dem Schock zu Wochenbeginn, als der Leitindex m it Minus 10,33 Prozent den größten Tagesverlust seit mehr als zehn Jahren verzeichnete, erholt. Doch schauen Investoren nun genauer hin, wie die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit den bisher schwersten Protesten von Regierungsgegnern umgeht.

Der Erfolg seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP hat sein Fundament in politischer Stabilität und dem großen Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre. Erdogan ist ein Mann der Megaprojekte geworden. Er hat den Bau eines dritten Flughafens und einer weiteren Bosporusbrücke angestoßen. Als Alternative zum Bosporus soll nördlich von Istanbul ein Kanal gebaut werden. Ankara betreibt den Einstieg in die Atomkraft.

Auch viele deutsche Mittelständler haben in der Türkei investiert oder wollen ins Geschäft kommen. Die Arbeitslosigkeit im Land ist nach Angaben des Statistikamtes im vergangenen Jahr auf 9,8 Prozent gesunken. Selbst die Jugendarbeitslosigkeit liegt demnach mit 19,8 Prozent deutlich unter dem Wert vieler EU-Staaten.

Proteste nach westlichem Muster?

"Das ist die Börse. Sie geht runter und sie geht hoc h", gab sich Erdogan zu Wochenbeginn von den Verlusten unbeeindruckt. Doch scheint die Sorge vor Verunsicherung groß. Staatspräsident Abdullah Gül habe internationale Investoren empfangen und erklärt, es handele sich um Proteste nach westlichem Muster, nicht um einen Aufstand wie bei den arabischen Nachbarn, berichten türkische Medien. "Die ökonomische und wirtschaftliche Stabilität wird erhalten", sagte er demnach.

Auf Investitionen aus dem Ausland ist die türkische Wirtschaft dringend angewiesen. Zugleich sehen Experten seit längerer Zeit das hohe Leistungsbilanzdefizit der Landes kritisch. Die Importe der Türkei sind deutlich höher als die Exporte - vor allem wegen der Abhängigkeit von Energielieferungen aus dem Ausland.

Wachstumsdämpfer und Dauerbelastung

Im vergangenen Jahr hatte die türkische Wirtschaft sowieso schon einem Dämpfer bekommen. Sie ist 2012 nach Angaben der Regierung nur etwa 2,5 Prozent gewachsen, nach 8,5 Prozent im Vorjahr (2010: 9,2 Prozent). Für das laufende Jahr haben internationale Institutionen ein Wachstum zwischen 3,5 und 4,6 Prozent prognostiziert. Bei längeren Protesten könnte eine Korrektur nötig werden.

Experte Bernhard Esser vom Bankhaus HSBC Trinkaus sieht die Massenproteste als potenzielle Dauerbelastung für den Finanzplatz. "Marktteilnehmer dürften vor Neuengagements abwarten." Vor den 2014 anstehenden Kommunal- und Präsidentschaftswahlen sowie den Parlamentswahlen 2015 würden Anleger jetzt genau auf Meinungsumfragen achten, um abzuschätzen, ob die AKP ihren bisher hohen Rückhalt in der Bevölkerung behält.

Analyst Ahmet Akarli von Goldman Sachs bewertet die Situation als "eine der ernsthaftesten politischen Herausforderungen der letzten Dekade". Die Lage könne wegen des hohen Engagements internationaler Investoren kritisch bleiben. Im dritten Quartal sei deshalb mit einer Konjunkturschwäche zu rechnen. Die Wachstumsprognose stehe dadurch auf wackligen Beinen, so Akarli.

Allerdings gebe es, so der Goldman-Experte, zwei wichtige Faktoren, die einer weiteren Zuspitzung entgegenwirken und eine massive Kapitalflucht verhindern dürften: Erstens habe das türkische Finanzsystem Erfahrung mit politischen Krisen und erhöhter Unsicherheit. Zweitens könnten sich Anleger auf die türkische Zentralbank verlassen. Notenbankchef Erdem Basci hat die Liquiditätsversorgung bereits stark eingeschränkt, um die Lira zu stützen.

Quelle: ntv.de, Hannes Breustedt, dpa

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