Etablierte Ablehnungskoalition Warum arbeiten wir nicht länger?
05.08.2025, 11:18 Uhr Artikel anhören
In der SPD wird die Forderung der Wirtschaftsministerin nach höherer Lebensarbeitszeit als "fern der Lebensrealität" bezeichnet.
(Foto: IMAGO/Olaf Döring)
"Schlag ins Gesicht!" - die Forderung nach längeren Arbeitszeiten führt zu reflexhafter Ablehnung. Sie ist aber dennoch richtig. Und es gibt Lösungen.
Das Sommerthema scheint durch Katherina Reiche gesetzt zu sein. Denn die Aufforderung der Bundeswirtschaftsministerin, die Deutschen "müssen mehr und länger arbeiten", hat reflexartig die etablierte Ablehnungskoalition auf den Plan gerufen. Verwiesen wird auf steigende Burnout-Raten, auf die ohnehin schon große Überforderung der stark geforderten Mitte oder - in linker Diktion - der arbeitenden Klasse. Regelmäßig wird der Dachdecker, neuerdings die Pflegekraft bemüht, um das Asoziale des Reiche-Vorschlags auf soziale Höhen zu führen. Kollege Finanzminister Lars Klingbeil hat gar einen "Schlag in das Gesicht für viele" identifiziert, wenn das gesetzliche Rentenzugangsalter erhöht werde.
Es ist offenkundig, dass auf dieser Diskursebene kein Konsens zu finden ist. Wenn Instrumente ideologisch verteufelt werden, ohne nach Sinn und Zweck zu fragen, dann ist eine sachorientierte Debatte schlicht nicht möglich. Natürlich ist es alles andere als überzeugend, wenn zur Begründung auf andere Länder verwiesen wird und dabei unzureichende empirische Grundlagen herangezogen werden. Und der Unterton der Debatte, dass wir Deutschen zu wenig arbeiten, lebt von einem Vorwurf, den man sich nicht freiwillig zu eigen macht. Verhärtete Fronten bricht man so nicht auf, zumal scheinbar modern und zeitgemäß andere mit der Vier-Tage-Woche winken.

Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Bundeswirtschaftsministerin hat ihre Forderung mit Verweis auf die demografische Entwicklung begründet. In diesem Sachzusammenhang liegt die Chance zu einer entkrampften Debatte. Wenden wir uns deshalb den Fakten der alternden Bevölkerung in Deutschland und ihren Folgen für den Arbeitsmarkt zu: Während in den Jahren 2026 bis 2029 - also der laufenden Legislaturperiode - 5,2 Millionen Menschen das Alter von 66 erreichen werden, wachsen nur 3,1 Millionen in die Altersgruppe ab 20 Jahren nach. Als Folge des Pillenknicks, der von 1965 bis 1975 zu einer Verringerung der Geburtenrate je gebärfähiger Frau von 2,1 auf 1,5 führte, stehen wir von nun an für eine Dekade in einem anstrengenden demografischen Übergang. Erschwerend wirkt, dass die Anzahl der jährlichen Arbeitsstunden je Erwerbstätigen sich von 1554 im Jahr 1991 um 14,3 Prozent auf 1332 im Jahr 2024 verringert hat; im Jahr 1970 lag diese Zahl in Westdeutschland bei 1966.
Demografischer Druck
Will man durch einen internationalen Vergleich Orientierung gewinnen, dann sollten die Arbeitsstunden auf die Einwohner im Erwerbsalter bezogen werden, da es je nach Land unterschiedlich hohe Anteile von nicht erwerbstätigen Personen gibt. Dieser Indikator zeigt, dass in Deutschland weit weniger gearbeitet wird als in vielen anderen Volkswirtschaften. Nun muss dies - ebenso wenig wie der Rückgang des Arbeitsvolumens im Zeitablauf - nicht mit mangelndem Fleiß zusammenhängen, wenn die Arbeitsproduktivität besonders hoch ist oder entsprechend steigt. Zwar ist für die Industrie eine überdurchschnittliche Stundenproduktivität der Beschäftigten im internationalen Vergleich zu identifizieren, doch lässt der Verlauf in den vergangenen Jahren nicht erwarten, dass hier in Deutschland überproportional große Potenziale liegen. Das verbindet sich mit dem Befund des Draghi-Reports, der für Europa insgesamt eine im Vergleich zu den USA trendmäßig angestiegene Produktivitätslücke identifiziert.
Damit sind wir bei der zentralen Herausforderung der politischen Debatte: Wenn für eine trendmäßige Steigerung der Arbeitsproduktivität unter den gegebenen institutionellen Bedingungen keine begründete Aussicht besteht, dann muss dem demografischen Druck durch eine umfassende arbeitsmarktpolitische Agenda Rechnung getragen werden, die das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen ausweitet. Die Vielzahl der systematisch begründbaren Ansatzpunkte sollte helfen, die Diskussion zu entspannen und das Unvermeidbare durch Einordnung politisch handhabbar zu machen.
Zunächst und vor allem zahlt eine Erhöhung der Anzahl der tatsächlich Erwerbstätigen auf ein größeres Arbeitsvolumen ein. Das verlangt sowohl eine gezielt aus Sicht des Arbeitsmarktes gesteuerte Fachkräftezuwanderung als auch weiter steigende Erwerbstätigenquoten potenziell erwerbsfähiger Personen, die sich im Lande befinden. Es geht darum, Menschen aus der stillen Reserve für den Arbeitsmarkt zu gewinnen, insbesondere durch den Abbau von Fehlanreizen der Sozialsysteme sowie durch Integrations- und Bildungsangebote. Ferner hilft die Erhöhung der Lebensarbeitszeit und damit die höhere Erwerbsbeteiligung älterer Menschen. Die Rente mit 67 Jahren kann bei wieder steigender Lebenserwartung nicht das letzte Wort gewesen sein; deren Effekte für die Rentenfinanzen sollten durch eine automatische und damit verlässliche Anpassung der Regelaltersgrenze so neutralisiert werden, dass Beitragssatz und Nettorentenniveau unverändert bleiben.
Unfreiwillige Teilzeit
Zweitens geht es um die Steigerung der Jahresarbeitszeit. Bei gegebenem Teilzeitanteil kann dies über die Wochenarbeitszeit und die Anzahl der Arbeitstage erreicht werden. Anders als bei der Lebensarbeitszeit adressiert die Jahresarbeitszeit unterschiedliche Regulierungen und institutionelle Bedingungen. Die Wochenarbeitszeit gestalten im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes die Sozialpartner, ebenso den Urlaubsanspruch oberhalb des gesetzlichen Mindestniveaus von 20 Tagen. Die Anzahl der gesetzlichen und kirchlichen Feiertage wird landesgesetzlich geregelt. Schließlich lässt sich die Jahresarbeitszeit dort gezielt erhöhen, wo Menschen unfreiwillig in Teilzeit beschäftigt sind; beispielsweise Alleinerziehende, die keine angemessene Kinderbetreuung finden.
Zudem gibt es unterstützende Maßnahmen, die den Arbeitseinsatz durch Flexibilisierung bei der betrieblichen Organisation von Arbeitszeit und Arbeitsort, durch Deregulierung der Zeitarbeit sowie befristeter Beschäftigung und durch verbesserte Anreize zur Wiederaufnahme von Arbeit im Bürgergeld stärken. Auch die Mobilisierung selbstständiger Erwerbsarbeit und verbesserte Chancen auf unternehmerisches Handeln sind ein wichtiger Beitrag, den Arbeitsmarkt und die Beschäftigung dynamisch zu halten.
Es gibt also einen Strauß von Maßnahmen, die sich gegenseitig verstärken und deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Und in einem insgesamt flexibleren und dynamischeren Ordnungsrahmen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeitsproduktivität stärker expandiert. Können wir darüber ohne Scheuklappen und ohne ideologische Verteufelung reden?
Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.
Quelle: ntv.de