Wirtschaft

Das Griechenland der Zukunft Was kommt nach der "Stunde Null"?

Die Kunst des Dialogs haben die Europäer einst von den Griechen gelernt.

Die Kunst des Dialogs haben die Europäer einst von den Griechen gelernt.

(Foto: AP)

Schuldenschnitt oder Staatspleite - egal für welchen Weg sich die Griechen letztendlich entscheiden: Ihr Land benötigt dringend einen realistischen Plan, der es nach der Krise wieder auf die Beine bringt. Wie kann das gehen? Wo liegen Griechenlands Stärken? Und: Was kann Europa tun?

Gut elf Millionen Einwohner, eine ausgewachsene Wirtschaftskrise und fast 330 Mrd. Euro Schulden: Griechenland steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wie kommt das Land da jemals wieder heraus? Bislang beschäftigt sich die Welt nur mit den . Doch selbst wenn sich diese Lasten - etwa durch ein Wunder - über Nacht in Luft auflösten, wäre Griechenland dadurch noch lange nicht gerettet: Das Land liegt wirtschaftlich am Boden.

Produktives Nachdenken, tiefe Erkenntnisse und logische Schlussfolgerungen haben in Athen eine lange Tradition.

Produktives Nachdenken, tiefe Erkenntnisse und logische Schlussfolgerungen haben in Athen eine lange Tradition.

(Foto: REUTERS)

Unter normalen Umständen wäre der Fall klar, das Standardrezept hieße "Wachstum". Eine florierende Wirtschaft brächte gutes Geld ins Land, die erhoffte Folge wäre lebhafter Konsum, zufriedene Bürger und sprudelnde Steuereinnahmen. Mit diesen Einkünften ließen sich die Schulden bedienen und über die Jahrzehnte vielleicht irgendwann einmal sogar komplett abtragen. Das Ziel läge klar vor Augen: Ein ausgeglichener Haushalt, stabile Verhältnisse, Glück und Wohlstand für alle Griechen.

Genug geträumt, denn die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Umstände sind längst nicht mehr normal, das Land steht vor gewaltigen Problemen. Die ungezügelte Kreditaufnahme der vergangenen Jahre hat einen Schuldenberg aufgetürmt, der dem Staat jegliche Luft zum Atmen nimmt. Die Wirtschaft darbt, die Gläubiger zweifeln, die Kreditzinsen steigen. Der Schuldendienst verschlingt die dürftig tröpfelnden Steuereinnahmen. Geld für Konjunkturprogramme steht nicht mehr zur Verfügung.

Wie kann sich das Mittelmeerland aus dieser Lage befreien? Ein 20-prozentiger Schuldenschnitt, wie von den Banken zunächst angeboten, wäre nicht viel mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ein 50-prozentiger Schnitt, wie zuletzt auf dem EU-Gipfel mehr oder weniger "freiwillig" durchgesetzt, wäre eine kleine Erleichterung. Ein Totalausfall als Schuldner, das harte Pleiteszenario, die Flucht in die staatliche Insolvenz böte unter günstigen Umständen die Chance auf einen Neuanfang, eine "Stunde Null" in Athen - und leider auch fürchterliche Härten für die Bevölkerung, einen kaum unvermeidlichen Kollaps der griechischen Wirtschaft und einen wohl dauerhaften Vertrauensverlust am Kapitalmarkt. Von einer mindestens europaweiten Eskalation der Krise ganz zu schweigen.

Fühlt sich als Vertreterin des jungen Griechenlands: Die Abgeordnete Eva Kaili.

Fühlt sich als Vertreterin des jungen Griechenlands: Die Abgeordnete Eva Kaili.

(Foto: AP)

Noch konzentriert sich alles auf die Schulden. Dabei stehen dahinter die eigentlich wichtigen Fragen: Wo steht das Land, wie geht es nach der Krise weiter? Im vergangenen Jahr kam Griechenland auf ein Bruttoinlandsprodukt von 230 Mrd. Euro, Tendenz fallend. Für das zweite Quartal 2011 weist die neu aufgestellte griechische Statistikbehörde Elstat ein "Wachstum" von minus 7,3 Prozent aus. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 16,3 Prozent. Experten gehen davon, dass die Zahl der Erwerbslosen bald beträchtlich ansteigt. Die Industrieproduktion brach im August gegenüber dem Vorjahresmonat um fast 12 Prozent ein. Die Erzeugerpreise stiegen um 8,3 Prozent. Streiks lähmen das Land, die Verbraucher haben Angst vor der Zukunft. Viel kälter kann es im Konsumklima kaum werden.

Immerhin ist Griechenland nicht allein auf der Welt. Im Jahr 2009 beliefen sich die Exporte der beiden wichtigsten Handelspartner Deutschland und Italien nach Griechenland auf einen Wert von 6,5 Mrd. Euro. Im Gegenzug lieferten die Griechen Waren im Wert von lediglich 1,8 Mrd. Euro in die beiden Partnerstaaten aus. Die Einnahmen aus dem Tourismus garantierten in der Vergangenheit bis zu 15 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Vor Ausbruch der Schuldenkrise kamen rund 15 Millionen Touristen nach Griechenland, darunter 2,4 Millionen deutsche Urlauber. Ansonsten besteht die griechische Wirtschaft überwiegend aus kleinen und mittelständischen Betrieben. Es gibt keinen einzigen ernstzunehmenden Großkonzern. Rund 40 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung entspringen dem öffentlichen Sektor mit seinem aufgeblähten Verwaltungsapparat und den zahlreichen Staatsbetrieben. Die griechische Industrie trägt nur knapp 12 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Landwirtschaft spielt international keine besondere Rolle.

Tiefe Schnitte unter Aufsicht

Dann kam der Sparzwang: Die bislang angestrengten Maßnahmen der Regierung Papandreou zielten notgedrungen zunächst auf kurzfristig wirkende Einspareffekte bei den Staatsausgaben, mehr Steuereinnahmen und schnelle Privatisierungserlöse. Hauptspielfeld ist der öffentliche Sektor: Schließlich weist die griechische Volkswirtschaft mit einem guten Viertel den europaweit höchsten Anteil von Staatsbediensteten an der Gesamterwerbsbevölkerung auf. Ob populär oder nicht: Hier musste Papandreou unbedingt den Rotstift ansetzen. Unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EU-Kommission stehen massive Gehaltskürzungen im Staatsdienst an. Dazu kommen breit gefächerte Steuererhöhungen, ein verschärfter Kampf gegen die Steuerhinterziehung und - besonders schmerzhaft - tiefe Einschnitte bei den sozialen Sicherungssystemen. Dazu kommen längst überfällige Arbeitsmarkt- und Strukturreformen.

Waffentechnisch dank deutscher Exporte auf dem neuesten Stand: Im griechischen Geschichtsbewusstsein sind die Jahre der Fremdherrschaft und der Besatzung noch sehr präsent.

Waffentechnisch dank deutscher Exporte auf dem neuesten Stand: Im griechischen Geschichtsbewusstsein sind die Jahre der Fremdherrschaft und der Besatzung noch sehr präsent.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Bei den Ausgabenkürzungen erfüllt Athen die Vorgaben bislang wohl recht zufriedenstellend, allerdings entwickeln sich die staatlichen Einnahmen weitaus schwächer als erwartet. Beobachter führen das vor allem auf die schwerwiegenden Mängel im Steuersystem zurück. Dazu kommt der unerwartet starke Rückgang des Konsums als Folge der Mehrwertsteuerhöhung von 19 Prozent auf 23 Prozent. So kann es also nicht weitergehen: Die bisherigen Maßnahmen sind ohnehin nicht mehr als nur Instrumente der akuten Nothilfe. Unter internationalem Druck versucht Papandreou den Geldgebern am Kapitalmarkt zu beweisen, dass seine Regierung den Kampf gegen die Überschuldung ernst nimmt. Gleichzeitig ist es offensichtlich: In Schwung bringen lässt sich ein Land so nicht.

Wo liegt Griechenlands Zukunft?

Von außen betrachtet, liegen die Probleme auf der Hand. Griechenland muss sich bewegen und wohl oder übel nach vorne schauen. Es wird allerhöchste Zeit für ein Zukunftskonzept: Die griechische Wirtschaft braucht einen realistischen Plan, wie das Land jenseits der Schuldenkrise auf den Pfad der Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit kommen kann. Wie könnte dieser Plan aussehen? Wo liegt das Potenzial Griechenlands? Mit Bodenschätzen ist das Land nicht gerade gesegnet. Doch es gibt tatsächlich stark vernachlässigte Quellen für Wirtschaftskraft und künftigen Wohlstand. Da wäre in erste Linie die Bevölkerung: Das griechische Bildungssystem bringt mehr als 90 Prozent aller Schüler bis zur Hochschulreife. Engpässe im Universitätsangebot schränken den Erfolg stark ein. Nur ein Teil der Abiturienten, 2005 waren es 64 Prozent, bekommt tatsächlich einen Studienplatz. Der Mangel an den besonders nachgefragten Abschlüssen wie zum Beispiel Medizin, Rechts- und Ingenieurswissenschaften zwingt junge Menschen ins Ausland. Wer sich das nicht leisten kann, drängt ohne Abschluss in den Arbeitsmarkt.

Land der Seefahrer, Siedler und Migranten: Der Aufbruch zu neuen Ufern ist für Griechen kein leerer Begriff.

Land der Seefahrer, Siedler und Migranten: Der Aufbruch zu neuen Ufern ist für Griechen kein leerer Begriff.

(Foto: Reuters)

An Bildung, Motivation und Sprachbarrieren dürfte Griechenland nicht scheitern: Englisch ist für griechische Schüler in der Regel die erste Fremdsprache, Deutsch ist stark im Kommen. Landesweit unterrichten rund Deutschlehrer an rund 3800 griechischen Schulen. Daneben besteht eine starke Nachfrage nach privatem Deutschunterricht bei kommerziellen Bildungsanbietern. In den staatlichen Grundschulen ist Deutsch oder Französisch obligatorische zweite Fremdsprache. Europa könnte hier gezielt helfen: Mit Stipendien, europäischen Studienplätzen, Gründerzuschüssen und Auslandsjahren. Die deutsche Industrie könnte sich außerdem überlegen, ob im Süden Europas nicht vielleicht auch eine ungenutzte Ressource zur Bekämpfung des viel beklagten Fachkräftemangels schlummert.

Zweite große Stärke: Die vergleichsweise gut ausgebaute Infrastruktur. Als traditionelle Seefahrernation bietet Griechenland zahlreiche Anknüpfungspunkte an den Welthandel. Das Land liegt am Kreuzungspunkt wichtiger Schifffahrtsstraßen wie zum Beispiel die Schwarzmeerroute mit Anbindung an den russischen Markt und die wichtige Suez-Route für Erdöl und Erdgas aus dem arabischen Raum und den Gütern aus Fernost. Fährverbindungen, Brücken, Pipelines und zum Teil auch gut ausgebaute Fernstraßen verbinden Griechenland mit der Mitte, dem Norden und dem Westen Europas.

Überhaupt die Lage: Schon jetzt bemüht sich das Land um eine stärkere Rolle als "regionale Drehscheibe". Das gilt für die Versorgung mit Energie und die Verarbeitung von Energierohstoffen ebenso wie für den Handel mit den zum Teil sehr dynamischen Nachbarstaaten im östlichen Mittelmeer. Für Europa könnte Griechenland bald eine viel stärkere Rolle spielen: Die Aufbruchsbewegung in den nordafrikanischen Staaten von Tunesien über Libyen bis Ägypten schiebt das Land in die vorderste Reihe, wenn es um politische, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte mit Europas südlichen Nachbarn geht.

Nüchterne Gedanken sind dann am wichtigsten, wenn rundherum die Krise tobt.

Nüchterne Gedanken sind dann am wichtigsten, wenn rundherum die Krise tobt.

(Foto: AP)

Vierte große Stärke: Die Inseln, die Küste, das Klima. Während Mallorca, die Algarve oder die Kanaren immer mehr kaufkräftige Nordeuropäer anziehen, die dort nach Zweitwohnungen oder Altersruhesitzen suchen, kämpft Griechenland noch mit einem wenig erfolgreichen Tourismuskonzept, den hohen Preisen und rückläufigen Besucherzahlen. Die Konkurrenz durch die neuen Billigurlaubsländer rund ums Mittelmeer hat spürbar zugenommen. Es ist Zeit für neue Ideen, wie schwach entwickelte Regionen mehr aus den natürlichen Gegebenheiten machen könnte. Die Ansiedlung von Solarkraftwerken samt Forschung und Zulieferindustrie wäre dabei nur ein erster Ansatz.    

Fünfte große Stärke: Die Nähe zur Türkei. Trotz aller Annäherungsbemühungen und der gemeinsamen Mitgliedschaft im mächtigsten Militärbündnis der Welt, ist die griechische Außenpolitik immer noch in einem absurden Bedrohungsgefühl gefangen. Volle 190 Jahre nach der griechischen Revolution von 1821 und dem Abzug der Osmanen schwelt in der Ägäis immer noch eine Art Kalter Krieg. Während Griechenland darbt, boomt im Nachbarland die Wirtschaft. Nirgendwo sonst in Europa gibt es auch nur annähernd so starke Wachstumsraten wie in der Türkei.

Zwischen zwei Wachstumszonen

Es wird höchste Zeit, dass Athen stärker auf die neue zugeht, die Verkehrsverbindungen ausbaut und die Handelsbeziehungen intensiviert. Wenn Griechenland die eingefahrenen politischen Bahnen verlässt und den offenen Austausch mit Ankara sucht, können die Griechen nur gewinnen. Südlich des Mittelmeers ist durch den arabischen Frühling einiges in Bewegung gekommen: Zusammen mit den europäischen Partnern muss Athen die Annäherung wagen und die Zusammenarbeit anbieten. Auch die Migration könnte Europa endlich als Chance verstehen. Athen könnte vom Boom am Bosporus und der Öffnung nach Nordafrika sofort profitieren - und nebenbei einen nicht unerheblichen und weitgehend nutzlosen Brocken im Staatshaushalt einsparen. Denn nach wie vor leistet sich Griechenland eine deutlich überdimensionierte Armee.

In ehrendem Gedenken: Athen könnte die Mahnmale erhalten und trotzdem an den Waffen sparen.

In ehrendem Gedenken: Athen könnte die Mahnmale erhalten und trotzdem an den Waffen sparen.

(Foto: AP)

Die griechischen lagen zuletzt bei etwa 7,3 Mrd. Euro pro Jahr. Zum Vergleich: Deutschland gibt alles in allem etwa 1,4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aus, Griechenland offiziell 3,1 Prozent. Wozu braucht Griechenland eine solche Streitmacht: Rund 130.000 Soldaten, mehr als 3000 Panzer, fast 600 Kampfjets und eine Flotte von etwa 50 Kriegsschiffen inklusive modernster U-Boote aus Deutschland? Im Verhältnis von Truppenstärke zur Einwohnerzahl belegt Athen den Spitzenplatz in Europa. Unter Aufsicht der Troika soll zwar auch hier gekürzt werden. Doch die versprochenen Schnitte im Militärhaushalt um 10 Prozent bleiben angesichts der Ausmaße der Staatsverschuldung und der radikalen Einsparungen im Bildungs- und Sozialsystem beinahe lächerlich wenig.

Auch wenn es hart wird: Griechenland hat tatsächliche realistische Chancen auf einen Neuanfang. Ein Blick hinter den Schuldenberg lohnt sich: Er eröffnet den Griechen und allen übrigen Europäern ermutigende Perspektiven. Die große Katastrophe könnte das Land unter Umständen sogar weiter voranbringen als all die Jahre der ungezügelten Verschwendung. Europa hat allen Grund, diesen Aufbruch mit Rat und Tat und Sachverstand zu unterstützen. Dann nämlich wären all die Milliarden aus den europäischen Rettungspaketen nicht verloren - und ein wirtschaftlich starker Brückenstaat im Süden der Eurozone gewonnen.

Quelle: ntv.de

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