Inside Wall Street Wer ist hier un-amerikanisch?
12.10.2011, 08:31 Uhr
Abstiegsangst und Perspektivlosigkeit: Der Mittelstand begehrt auf.
(Foto: AP)
In den USA sorgt die anwachsende Protestwelle zunehmend für Unruhe: Überall in den Staaten gehen wütende Bürger gegen die Misstände im Land auf die Straße. Längst mischen die Ausläufer der Bewegung den US-Wahlkampf auf. Die etablierten Parteien wehren sich nach Kräften - und fahren verbal schwere Geschütze aus.
Der unerwartet warme New Yorker Sommer kommt ihnen recht, doch einfach haben es die Demonstranten nicht, die nun schon seit vier Wochen im Zucotti-Park campieren – einen Steinwurf von der Wall Street entfernt. Einen Steinwurf übrigens, der bislang nicht passierte und auch nicht bevorzustehen scheint. "Occupy Wall Street" verläuft friedlich, trotz aller Kritik.
Kritik gibt es von vielen Seiten. Der New Yorker Bürgermeister fürchtet, die Demonstranten könnten die Stadt Jobs kosten oder gar die milliardenschwere Finanzbranche vertreiben. Die Republikaner auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene sehen entsetzt einen "Mob". Sie glauben, dass "Amerikaner jetzt Amerikaner gegeneinander aufbringen". Am lautesten wettern die Kandidaten im republikanischen Vorwahlkampf gegen die Linken: spricht von "Klassenkampf", findet die Proteste "un-amerikanisch", und der Tea-Party-Rechtsaußen warnt: "Die Demonstranten wollen anderen ihr iPad klauen, weil sie glauben, dass reiche Leute die Dinger nicht verdienen."
Größeren Blödsinn hat man selten gehört, auch wenn sich ein guter Teil der US-amerikanischen Medien redlich bemüht, die Protestaktionen in das schlechtestmögliche Licht zu stellen. "Ich habe gehört, dass viele Leute bezahlt werden, um hier zu protestieren", hakt eine Moderatorin beim Börsensender CNBC nach. "Das glaube ich nicht", meint der Reporter vor Ort zu Recht – die Taktik hat in den USA Methode. Auch der Murdoch-Sender Fox stellt regelmäßig unerhörte Behauptungen auf und beruft sich darauf, dass man das "von manchen Leuten gehört" habe. Legitim ist das nicht.

Gegenwind für etablierte politische Kräfte: Michael Bloomberg werden Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt.
(Foto: dpa)
Doch nicht nur die Kritik an den Protesten wächst, auch der Zusammenhalt im Zucotti-Park, die Aktionen rund um die Wall Street und die Unterstützung von außen nehmen zu. In dieser Woche will der schwarze Bürgerrechtler und frühere Präsidentschaftskandidat seine Radiosendung aus dem Protestlager senden. Schauspieler marschieren mit und skandieren "We are the 99 percent", selbst Politiker aus dem liberalen Lage unterstützen die Bewegung – gegen deren ausdrücklichen Wunsch.
Von den etablierten Kräften enttäuscht
Die Demonstranten sind von den Demokraten genauso enttäuscht wie von den Republikanern. Es geht hier nicht um Parteipolitik, sondern um die soziale Ungerechtigkeit in einem der reichsten Länder der Welt, in dem ein paar wenige Milliarden haben und ein Großteil unterhalb der Armutsgrenze vegetiert.
Doch zurück zur Kritik. Paul Krugman, Pulitzerpreisträger der New York Times und Wirtschaftsnobelpreisträger, hat einen interessanten Ansatz. Die Schwerreichen an der Wall Street, die Bosse, die keine Steuern zahlen und mit ihrer Lobbypolitik Washington in der Hand haben, wüssten, dass ihre Position zwar lukrativ ist, aber moralisch nicht zu rechtfertigen. Um so golden weiterleben zu können wie bisher, müssen sie jede genaue Betrachtung der Situation unterdrücken, denn zu offensichtlich ist, dass im endlosen Spiel der US-amerikanischen Politik und Märkte die Karten gezinkt sind. Die Demonstranten halten einen Scheinwerfer drauf, und das muss man verhindern.
Krugman fragt folgerichtig, wer denn hier "un-amerikanisch" sei: die Demonstranten, die ihre Meinung kundtun, oder die Wall Street, die verhindern will, dass jemand hinter ihre Taktik kommt.
Rund um den wichtigsten Finanzplatz der Welt legt man sich ganz schön ins Zeug, um die Demonstranten zurückzuhalten. Kilometerlange Barrieren halten den Fußverkehr in engen Bahnen, vor der New Yorker Börse patrouillieren berittene Polizisten, und der Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken gegen friedliche Demonstranten hat längst für Schlagzeilen gesorgt.
Die Besetzer müssen einiges einstecken, doch es scheint, dass ihre Botschaft immer weitere Kreise zieht und vielleicht sogar einen Richtungswechsel einleiten kann.
Quelle: ntv.de