Panorama

Kehrseite des Recyclingbooms "Müll-Kinder" in Kambodscha

Vorsichtig untersucht der Arzt eine Wunde am Nacken des zehnjährigen Jungen. Seine Hose ist zerrissen, das T-Shirt steif vor Dreck. "Wenn die Kinder hier nach Müll suchen, tragen sie weder Schuhe noch Handschuhe", seufzt der kambodschanische Mediziner Tuy Puthea, während er die Verletzung des Jungen in einer schmutzigen Straße hinter dem Olympiastadion von Phnom Penh versorgt. "Sie atmen giftige Dämpfe ein und essen aus Abfalleimern. Die Müllkinder sind vielen Gefahren ausgesetzt."

Entzündete Wunden, Kopfschmerzen, Durchfall und hartnäckiger Husten gehören zu den Krankheiten, die Tuy Puthea bei seinen Rundgängen durch die Müllviertel der kambodschanischen Hauptstadt regelmäßig bei den Straßenkindern diagnostiziert. Der Arzt arbeitet für die Hilfsorganisation Mith Samlanh, die sich für die Gesundheit obdachloser Kinder einsetzt. Jeden Tag behandelt er durchschnittlich 30 Jungen und Mädchen.

70 Prozent der Müllsammler sind Kinder

Die meisten von ihnen arbeiten auf Mülldeponien und dort, wo sich wiederverwertbare Abfälle in den Straßen stapeln. Denn der wirtschaftliche Aufschwung in Kambodscha heizt auch die Nachfrage nach Glas, Metall und Papier an. Das Sozialministerium in Phnom Penh schätzt die Zahl der Kinder, die 2006 den Abfall nach verwertbaren Rohstoffen durchwühlten, auf 4000. Nach Angaben von Hilfsorganisationen dürften es mittlerweile 10.000 bis 20.000 sein.

Im ganzen Land sind nach Schätzungen rund 1,5 Millionen Kinder unter 14 Jahren zur Arbeit gezwungen. Während die meisten von ihnen auf den Feldern ihrer Familien mithelfen, riskieren nach Angaben von Hilfsorganisationen bis zu 250.000 Kinder ihre Gesundheit oder gar ihr Leben mit der Arbeit in Fabriken, im Bergbau, auf Mülldeponien oder beim Betteln. In der Hauptstadt seien rund 70 Prozent der Müllsammler Kinder, schätzt Mith Samlanh. Sie sind Tag und Nacht unterwegs, durchwühlen Abfalleimer oder betteln vor Straßenrestaurants um leere Getränkedosen und Flaschen.

Mit dem Sammeln von Pappe, Glas oder Aluminium kann ein Kind einen oder zwei Dollar am Tag verdienen - überlebenswichtiges Geld in einem Land, in dem 35 Prozent der Bevölkerung in Armut leben. Doch das Geschäft mit dem Müll verstrickt die Kinder auch in ein undurchsichtiges System der Hierarchien und Abhängigkeiten: Andere, oft nur wenige Jahre ältere Kinder, kontrollieren den Recyclingmarkt, drücken die Preise und verlangen oft Schutzgelder. "Gewalt, Drogen, sexuelle Belästigung und Hehlerei gehören zum Müllgeschäft dazu", sagt der Arzt Tuy Puthea.

Arbeit von Hilfsorganisationen gefährdet

Die Probleme könnten bald noch zunehmen, wenn die Stadtverwaltung wie geplant die größte Mülldeponie des Landes schließt. Gleich vor den Toren der Stadt gelegen, am Ende einer langen Straße voller Müllwagen und Abfälle, platzt die Stung-Meanchey-Deponie aus allen Nähten. Hier wühlen sich Hunderte Kinder durch den Dreck, ihre Gesichter sind auch bei größter Hitze mit langen Schals verhüllt, so stechend ist der Gestank. Wird die Deponie geschlossen, müssen die Kinder auf die Straßen ausweichen und sich neue Reviere suchen.

"Grundsätzlich ist es richtig, die Müllhalde zu schließen", sagt Pin Sarapitch. Seine Hilfsorganisation PSE bietet seit zwölf Jahren Unterricht und Ausbildungsprogramme für bislang mehr als 5000 Kinder am Rande der Stung-Meanchey-Deponie an. "Doch dann muss der Staat aktiv werden. Sie können nicht die Deponie schließen und die Kinder sich selbst überlassen, ohne einen Ort, an dem sie arbeiten und leben können." Wird die Deponie geschlossen, steht auch die Arbeit der Hilfsorganisationen auf dem Spiel, warnt Sarapitch. "Wie sollen wir künftig mit den Kindern arbeiten, wenn wir sie nicht mehr finden in der Stadt?"

Lucie Lautredou, AFP

Quelle: ntv.de

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