Im Blizzard in Boston Wie der Schnee US-Großstädte lahmlegt
28.01.2015, 07:34 Uhr
Auf halber Strecke zwischen MIT und Harvard: Die Massachusetts Avenue wirkt wie ausgestorben.
(Foto: Morcinek)
Es sind apokalyptische Szenen inmitten einer Millionenmetropole: Wintersturm "Juno" versetzt den Großraum Boston in die Winterstarre. Busse und Bahnen stehen still, Geschäfte und Schulen bleiben geschlossen. Das öffentliche Leben friert ein. Wie kommt das?
Schwer mahlen die Stiefel durch den Pulverschnee. Im Wirbeln der Flocken ist es fast vollkommen still. Nur ganz leise klingt aus der Ferne das gedämpfte Sirren einer Schneefräse herüber. Eine vermummte Gestalt taucht auf und stapft vorüber. "Take care", ruft sie, bevor sich ihre Spur im Schneetreiben wieder verliert. So fühlt er er sich also an, der schwere Blizzard im Nordosten der USA.
Im Zentrum von Cambridge, gleich gegenüber von Downtown Boston - und damit mitten im Zentrum des größten Ballungsgebiets im Nordosten der USA - herrscht tatsächlich gespenstische Stille. Die sonst vielbefahrene Massachusetts Avenue gleicht einem eisigen Hohlweg. Dabei ist das eigentlich die Hauptstraße, die Boston mit der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) verbindet - zwei der bekanntesten Eliteuniversitäten der Welt. An normalen Tagen schieben sich hier Kleinwagen, Kombis und Trucks Stoßstange an Stoßstange durch die Innenstadt. Doch der Blizzard ist stärker. Die breite Straße wirkt wie ausgestorben.
Dabei kamen die Schneemassen nicht ohne Vorwarnung: Seit Tagen kreisen die Wetternachrichten um nichts anderes mehr als um den großen Sturm. Der Jetstream habe das Tiefdrucksystem ungewöhnlich weit nach Süden gedrückt, heißt es. Über dem Atlantik, gleich vor der Küste, füllt der gegen den Uhrzeigersinn drehende Wirbel riesige Mengen an Feuchtigkeit auf. Zugleich saugt "Juno" auf ihrer Rückseite Kaltluft aus der Arktis an. Für einen Blizzard, so sagen die Meteorologen, ist es die perfekte Mischung.
Schnee-Notstand in den Straßen
Das Ergebnis: Das Sturmtief schickt ein Schneeband nach dem anderen über die dicht besiedelten Regionen im Nordosten der USA, wo ergiebige Niederschläge in Form von feinstem Pulverschnee niedergehen. Betroffen sind neben New York vor allem die Bundesstaaten Connecticut, Rhode Island, New Hampshire und das weit im Norden gelegene Maine. Die meisten Schneemengen werden allerdings in Massachusetts erwartet. Dort, in der Metropolregion Greater Boston, leben etwa viereinhalb Millionen Einwohner auf etwa der doppelten Fläche Berlins. Und dort schneit es seit Wochenbeginn nahezu ununterbrochen. "Juno" überschüttet das Land mit bis zu 90 Zentimeter Neuschnee.
Seit Montagabend gilt offiziell der Schnee-Notstand. Noch in der Nacht trat zudem wie in New York auch hier ein komplettes Fahrverbot in Kraft. Schulen, Behörden und die meisten Geschäfte bleiben am Tag danach geschlossen. Konzerte werden abgesagt. Geschäftstermine platzen. Am Flughafen sammeln sich gestrandete Passagiere. Das gesamte öffentliche Leben läuft nur noch auf Notbetrieb. Der gesamte Einzelhandel kommt zum Erliegen. Jetzt zahlt sich aus, dass sich viele US-Bürger noch am Wochenende in Hamsterkäufen mit allem Nötigen und Angenehmen eingedeckt haben. Denn zu kaufen gibt es hier - anders als in New York - vorerst nichts mehr.
Schneeverwehungen in den Nebenstraßen: Wer seinen Wagen ausgraben möchte, muss ihn erst einmal finden.
(Foto: Morcinek)
Der Großraum Boston erstarrt unter einer stetig wachsenden Schneedecke. Aus europäischer Sicht erscheint das unglaublich: Wie kann ein einzelner Schneesturm gleich mehreren US-Bundesstaaten eine Zwangspause auferlegen? Und: Wie würden Städte in Europa ein Naturereignis dieser Größenordnung überstehen?
Schnee verstopft die Lebensadern
Schneesturm "Juno" trifft nicht gerade strukturschwaches Hinterland. Der Großraum Boston zählt zu den wichtigsten Wirtschaftsstandorten des Landes. Zahlreiche Firmen aus Branchen wie Hightech, Pharma und Versicherungen haben hier ihren Hauptsitz. Der Großraum Boston gleicht einem riesigen Job- und Wirtschaftsmotor – umgeben von schier endlosen Vororten aus lose verstreuten Einfamilienhäusern. Das Einzugsgebiet erstreckt sich teils bis nach Rhode Island im Süden und New Hampshire im Norden.
Und genau hier liegt das Problem: Wohnort und Arbeitsplatz liegen mitunter weit auseinander. Wie mit riesigen Arterien ist die Stadt durch ein Netz aus mehrspurigen Schnellstraßen ans Umland angebunden. Zwar gibt es Ansätze für den öffentlichen Nahverkehr - und neuerdings sogar vereinzelt Fahrradwege. Die Mehrheit der Bevölkerung jedoch bleibt im Alltag auf das Auto angewiesen.
Bis zu zehn Zentimeter pro Stunde
Der Schnee selbst ist im Straßenverkehr eigentlich kein größeres Problem. Die schieren Mengen jedoch sind es, die die Behörden dazu zwingen, frühzeitig in den Ausnahmezustand zu wechseln. Seit dem Beginn der offiziellen Unwetterphase fallen bis zu zehn Zentimeter Schnee pro Stunde. Starke Windböen häufen die weißen Schichten binnen Minuten zu enorme Schneeverwehungen auf. Darin bleiben angeblich selbst halbwegs geländegängige SUVs schnell stecken.
Das ist auch der Grund, warum die Gouverneure mehrerer Bundesstaaten für die Nacht von Montag auf Dienstag in einigen Bezirken umfangreiche Fahrverbote für Privatfahrzeuge erlassen haben. Die Behörden wollen mit dem Travel Ban schlicht sichergehen, dass die Räumfahrzeuge freie Bahn haben.
Pendler bleiben chancenlos
Diese Entscheidung hat allerdings weitreichende Folgen: Da die Mehrheit der US-Bürger mit dem eigenen Wagen zur Arbeit pendelt, legen die Behörden mit dem Fahrverbot zugleich auch in privaten Unternehmen den Schalter um. Da auch der öffentliche Nahverkehr mangels anwesender Mitarbeiter in Schockstarre verfällt, haben Angestellte tatsächlich keine realistischen Chancen mehr, ihre weit entfernten Arbeitsstätten zu erreichen.
Stolzes Ergebnis einer guten halben Stunde Arbeit: Gemeinsam haben sie ihr Auto vom Schnee befreit. In der Nacht soll es weiter schneien.
(Foto: Morcinek)
Die Pendler-Problematik trifft den Dienstleistungssektor und die unteren Einkommensgruppen härter als den Rest der Bevölkerung. Denn kurze Arbeitswege muss man sich in den USA auch leisten können. Die Vororte mit halbwegs erschwinglichen Grundstückspreisen liegen weit außerhalb. Wie sonst als mit dem Auto sollten einfache U-Bahnangestellte zu ihren Arbeitsplätzen in die teuren Innenstadtlagen gelangen? Weil die Mitarbeiter fehlen, setzen die Schneefälle indirekt auch das U-Bahnnetz außer Betrieb.
Parkplätze mit Schnee blockiert
Ähnlich verhält es sich in Industriebetrieben, in der Gastronomie und beim Einzelhandel: Die Masse der erwerbstätigen Bevölkerung bleibt notgedrungen zu Hause. Dort sind die meisten nach Beginn des Blizzards damit beschäftigt, das eigene Auto wieder auszugraben oder die Lufteinlässe für ihre Heizungssysteme am Haus schneefrei zu halten.
Und: Wer seinen Wagen von der weißen Pracht befreit hat, überlegt sich zweimal, ob er nach dem Ende des Fahrverbots wirklich losfährt. Denn angesichts der allgemeinen Parkplatznot sind Stellplätze wertvoll. Wer die sichere Position vor dem Haus aufgibt, muss womöglich später lange Fußwege in Kauf nehmen.
Unter Blizzard-Bedingungen treten vor allem die Schwachstellen der US-amerikanischen Massenmobilität zutage: Vieles, fast alles hängt in den USA direkt oder indirekt am Auto. Sind die Straßen gesperrt, friert das Geschäftsleben zwangsläufig mit ein. So kann schon ein mittlerer Schneesturm den Puls einer Großstadt auch ohne die befürchteten Stromausfälle zur Ruhe zwingen.
Gemeinsam gegen den Sturm
Europäische Städte und Gemeinden dürften die Schneemengen eines nordamerikanischen Blizzards deutlich besser verkraften als New York oder Boston - und das nicht nur, weil die Stromnetze in der Alten Welt in der Regel besser vor Schneebruch geschützt sind als in den USA.
Auf der Massachusetts Avenue und den angrenzenden Straßen geht es unterdessen mit dem Abflauen der Schneefälle unerwartet herzlich zu. Die Familien sitzen zusammen und genießen die freie Zeit. Die Schulen bleiben auch am Mittwoch noch geschlossen. Vor der Tür kommen Nachbarn auf ihre Schneeschaufeln gestützt ins Gespräch. Gemeinsam graben sie anschließend ihre Fahrzeuge aus. Der Ausnahmezustand zeigt immerhin Wirkung: Der Blizzard bringt die Menschen näher zusammen.
Quelle: ntv.de