Die Welt rätselt über Fukushima IAEA und WHO halten Berichte zurück
01.04.2011, 11:05 Uhr"Am 11. März 2011 ereignete sich im japanischen Atomkraftwerk Fukushima 1 ein folgenschwerer Atomunfall." Dieser Satz wird Geschichte schreiben, obgleich noch völlig offen ist, wie folgenschwer der GAU wirklich sein wird. Eines steht fest: Fukushima ist ein Informationsdesaster.

Die täglichen Pressekonferenzen von Tepco werden mit einer höflichen Verbeugung eröffnet.
(Foto: AP)
Die japanische Regierung veröffentlicht in täglichen Bulletins das, was ihr die Betreiberfirma Tokyo Electric Power Company (Tepco) an Informationen zukommen lässt. So gestand Tepco erst zwei Wochen nach dem GAU einen Messfehler und die 100.000-fach erhöhte Strahlung am Reaktorblock 2 ein. Regierungssprecher Yukio Edano zeigte sich betreten und versprach, man werde die Öffentlichkeit jetzt aufrichtiger und detaillierter über den Unfall informieren. In der Folge berichtet Tepco von einer partiellen Kernschmelze in dem Reaktor, obgleich diese bereits kurz nach der Wasserstoffexplosion stattgefunden haben muss. Auch dies hätte nach Meinung zahlreicher Wissenschaftler bereits unmittelbar nach dem GAU festgestellt werden müssen.
Auch die Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) basieren auf dem Bulletin der japanischen Regierung und den Pressekonferenzen von Tepco. Sie bündelt damit allenfalls das Wissen der Politik. Dabei war die IAEA gegründet worden, um weltweit die Sicherheit im Nuklearbereich zu überwachen und zu kontrollieren. Sie setzt sich jedoch auch explizit für die Förderung der kommerziellen Atomindustrie ein. In ihren Statuten heißt es: Das Hauptziel der IAEA ist "die Beschleunigung und die Förderung der Atomindustrie für den Frieden, für die Gesundheit und für das Wohlbefinden in der ganzen Welt".
Ein Maulkorb für die WHO
Fast nebenbei wird in diesem Text betont, dass die IAEA auch für Gesundheitsfragen im Bereich der Atomindustrie zuständig ist. Nach einem 1959 geschlossenen Abkommen zwischen der IAEA und der WHO ist die Weltgesundheitsorganisation auf dem Gebiet der Radioaktivität an die Atomagentur gebunden. Seither werden die gesundheitlichen Risiken, die die kommerzielle Nutzung der Atomenergie mit sich bringt, von der IAEA selbst "überwacht" beziehungsweise "erforscht" – und nicht mehr von unabhängigen medizinischen Behörden.

Greenpeace hatte in Iitate eine hohe Radioaktivität gemessen. Die Regierung lehnt eine Evakuierung weiter ab.
(Foto: dpa)
Dieses Abkommen ist nach Überzeugung der internationalen Ärztevereinigung für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) dafür verantwortlich, dass die WHO angesichts der Nuklearkatastrophe in Fukushima erneut ihre Verantwortung für die Gesundheit der betroffenen Menschen nicht wahrnimmt. "Die WHO trägt durch das Abkommen von 1959 einen Maulkorb und versagt in Japan genauso wie 1986 in Tschernobyl oder nach den Einsätzen von Uranmunition in den Kriegen gegen Irak 1991 sowie gegen Serbien 1999", sagte die bei der IPPNW engagierte Ärztin Dörte Siedentopf im Gespräch mit n-tv.de. Sie verweist darauf, dass die Aktivisten der Organisation "IndependentWHO" seit vier Jahren vor der Zufahrt der WHO-Zentrale in Genf für die Aufkündigung des über 50 Jahre alten Abkommens mit der IAEA protestieren. Auf deren Plakaten sei zu lesen "Beendet endlich dieses schamlose Abkommen!" und "Erinnert euch an den hippokratischen Eid!". "Die Mahnwachen stehen rund um die Uhr an jedem Tag, seit nunmehr vier Jahren. Da stehen Franzosen, Deutsche, Schweizer, Briten. Das muss doch zum Nachdenken anregen." Eigentlich sei es jetzt die Aufgabe der WHO, eigenständige Initiativen und Maßnahmen zu ergreifen, um die japanische Bevölkerung vor den gesundheitlichen Folgen radioaktiver Kontamination zu schützen, sagte die Ärztin. "Aus den Erfahrungen von Tschernobyl weiß auch die WHO von den Folgen der Radionuklide. Es werden ja nicht einmal Schwangere oder Mütter mit Kindern aus der Gefahrenzone rund um das AKW Fukushima gebracht."
IAEA hält Berichte zurück
Die IPPNW setzt sich seit langem für eine Aufhebung des Abkommens von 1959 ein. Sie kritisiert, dass "die IAEA bei ihren Untersuchungen über die gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe kritische Informationen unterdrückt." So waren die Gesundheitsfolgen von Tschernobyl Thema zweier größerer UN-Konferenzen, 1995 in Genf und 2001 in Kiew. Die Berichte dieser beiden Konferenzen blieben jedoch unveröffentlicht.
Veröffentlicht wurde hingegen der Bericht des von der IAEA dominierten "Tschernobyl-Forums" aus dem Jahr 2005, der im Vergleich zu anderen Studien von einer viel geringeren Opferzahl ausging. Eine Vielzahl von epidemiologischen Forschungen, "die eine weit höhere Sterblichkeit und eine Zunahme genetischer Schäden belegen", seien darin ignoriert worden, so die IPPNW. In einer Pressemitteilung zum 20. Tschernobyl-Jahrestag sprach die IAEA von 50 Strahlentoten in Tschernobyl und teilte mit, dass auch künftig höchstens mit 4000 zusätzlichen Krebs- und Leukämietoten zu rechnen sei. Wissenschaftler sind jedoch der Meinung, dass neue Mutationen, die bei Menschen auftreten, für sie selbst wie für ihre Nachkommen schädlich sein werden.
Jonglieren mit Opferzahlen
Der Biologe Alexej Jablokow kritisierte die Angaben von IAEA und WHO zu den Toten von Tschernobyl scharf. Jablokow, einer der bestinformierten und angesehensten Experten in Sachen Tschernobyl, spricht von zwei Methoden, die Zahl der Opfer zu berechnen. Die erste geht von der Gesamtdosis aus, die die Bevölkerung abbekommen hat und die zweite geht von den tatsächlich ermittelten Todesopfern aus. Beide liegen bei rund einer Million Tschernobyl-Toten, wobei die erste Methode in einer B-Variante auch noch künftige Tote einrechnet und dabei auf bis zu 1,8 Millionen weltweit kommt. Der Biologe weist darauf hin, dass nach dem Super-GAU von Tschernobyl nur 43 Prozent der Radioaktivität in den früheren Sowjetrepubliken niederging.
Während die IAEA keinen wissenschaftlichen Hinweis auf Neuerkrankungen oder Todesfälle infolge der Strahlenbelastung sieht, verweist Jablokow auf die drastisch davon abweichenden Angaben der Liquidatoren-Vereinigungen. Allein bei den Liquidatoren – also den Aufräumarbeitern in Tschernobyl – gebe es bisher 112.000 bis 125.000 Tote bei insgesamt 830.000 Helfern. Die durchschnittliche Lebenserwartung der inzwischen Verstorbenen liege bei rund 43 Jahren. 94 Prozent der Aufräumarbeiter seien heute erkrankt, vorwiegend an Nicht-Krebs-Erkrankungen.
Genetische Schäden erst in der Entwicklung
Über Nicht-Krebs-Erkrankungen erfährt die Öffentlichkeit wenig, genauso wie über genetische Auswirkungen der Strahlenbelastung durch Tschernobyl. "Die Zahl der betroffenen Menschen ist hoch und Politiker möchten vermeiden, dass Gesundheitsschäden dieser Art womöglich auch in ganz anderen Zusammenhängen als strahlenbedingte Berufskrankheiten anerkannt werden müssen. Hintergrund sind mögliche Entschädigungszahlungen", berichtet Dörte Siedentopf. Hätten IAEA und WHO die zahlreichen Studien über Tschernobyl anerkannt, wären sie nach Meinung der Ärztin verpflichtet gewesen, sich an der Beseitigung der Folgeschäden zu beteiligen – mit ganz viel Geld und Hilfsmaßnahmen. "Damit bleibt Tschernobyl auch 25 Jahre nach dem Super-GAU ein lokales Problem Russlands, Weißrusslands und der Ukraine."

Weite Landstriche im Nordosten Japans hätten nach Meinung von Strahlenexperten bereits evakuiert werden müssen.
(Foto: dpa)
Von den genetischen Schäden wisse man jedoch, dass lediglich zehn Prozent der insgesamt zu erwartenden Schäden in der ersten Generation auftreten. "Das heißt, 90 Prozent der genetischen Probleme kommen erst noch auf uns zu." Seit den 1970er Jahren wisse man, dass ionisierende Strahlung nicht nur Krebs verursacht, sondern auch zu genetischen Schäden führt. Diese Schäden würden schon durch niedrigste Dosen ausgelöst. Laut IPPNW gab es in den letzten Jahren wesentliche neue Forschungsergebnisse – non-target effects, genomische Instabilität und den Bystander-Effekt. Diese Effekte würden die bisherigen Vorstellungen über die Mechanismen der Strahlenschädigungen grundlegend verändern, auch wenn davon noch nicht alles bis in das letzte Detail geklärt sei.
Gefahren werden ausgeblendet
Fehlende Informationen – wie im Fall Tschernobyl oder jetzt Japan – würden sich laut IPPNW Regierungen sogar zunutze machen. So solle das Thema Tschernobyl in Russland, Weißrussland und der Ukraine zu den Akten gelegt werden: Armut, ungesunde Lebensweise und psychische Krankheiten stellen angeblich ein viel größeres Problem dar als die Verstrahlung, heißt es. Die gesperrten Gebiete sollen demnach zügig wieder in den Wirtschaftkreislauf eingegliedert werden, sogar von einem Touristikprogramm für die Sperrzone sei die Rede. In Weißrussland sei ein neues Atomkraftwerk in Planung – da spreche die Regierung ungern über die Risiken der Atomenergie für die Gesundheit.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Ärztevereinigung IPPNW das Interview mit dem russischen Umweltpolitiker Alexej Jablokow mit dem Titel "Ein zweites Tschernobyl rückt näher" überschrieb und am 7. März, also vier Tage vor dem Reaktorunglück in Japan, veröffentlichte. Jablokow kritisierte die offizielle Lesart der Atomindustrie, wonach sie aus Tschernobyl gelernt und ihre Atomkraftwerke sicherer gemacht habe. Er verweist darauf, dass "trotz der Nachrüstungen die Zahl der Unfälle und Vorkommnisse nicht zurückgeht". Der Grund sei, dass die Anlagen insgesamt älter und deren Laufzeiten verlängert würden. Aber schließlich könne man aus einem alten Auto kein neues machen. "Deshalb rückt ein zweites Tschernobyl nicht weiter weg. Im Gegenteil: Es kommt näher." Vier Tage später sollte Jablokow auf schreckliche Weise recht bekommen.
Quelle: ntv.de