
Schätzungsweise 400.000 meist junge Leute kamen zum "Woodstock Music and Art Festival" im August 1969, etwa doppelt so viele wie geplant. Wenn man hier überhaupt von Planung sprechen kann - es war viel Improvisation im Spiel.
(Foto: imago/United Archives)
Woodstock 1969, das waren Flower Power, Liebe und Frieden, aber auch Sex and Drugs and Rock'n'Roll. Dazu: erboste Anwohner, viel Schlamm und wenig Essen. Wie aus dem Riesenchaos doch noch eine Riesenparty wurde, die in die Geschichtsbücher einging, erzählt Festivalorganisator Michael Lang.
Fast könnte man denken, Geschichte wiederholt sich doch - zumindest wenn man von den enormen Schwierigkeiten hört, die sich vor dem geplanten dreitägigen Musikfestival "Woodstock 50" auftürmten. Mitte August sollte das Jubiläums-Festival stattfinden, genau 50 Jahre nach dem legendären Fest der Liebe, des Friedens, der "Flower Power" in den USA. Inzwischen wurden die Probleme so groß, dass die Neuauflage sogar abgesagt wurde. Danach sah es 1969 auch immer mal wieder aus. Damals wie heute mussten die Organisatoren innerhalb sehr kurzer Zeit mehrmals einen neuen Veranstaltungsort finden - aus Woodstock wurde Wallkill und schließlich das Dorf White Lake nahe der Kleinstadt Bethel, rund 150 Kilometer nordwestlich von New York. Der ursprüngliche Name Woodstock blieb und wurde zum Mythos.
Wie genau es dazu kam, die ganze dramatische Entwicklung samt langem Vorspann, dramatischem Höhepunkt und entspannter Nachbetrachtung, das schildert Michael Lang, Organisator des Festivals, in seinem Buch "Woodstock - Die wahre Geschichte". Er beginnt mit dem Schlusspunkt: "Es ist 10 Uhr am Montag, 18. August 1969. Jimi Hendrix spielt vor 40.000 Zuschauern. Etwa eine halbe Million Menschen sind in der Nacht zuvor abgereist." Von da aus geht Lang ganz weit zurück, in seine eigene Geschichte, seine Familie, seine Freunde, seine Studienzeit.
Er wurde 1944 in Brooklyn, New York geboren, war also in der Umbruchzeit der Sechzigerjahre in seinen Zwanzigern und kam früh mit der Folk-Bewegung in Kontakt, mit Hippies, mit Drogen. 1967 öffnete Lang in Miami einen Headshop, also einen Kifferzubehör-Laden, und organisierte Konzerte, 1968 auch das Miami Pop Festival - über das er 2012 sagte: "Hier wurde der Samen für Woodstock gesät." In den namensgebenden Ort Woodstock zog Lang dann im selben Jahr, denn dort hatten sich viele Musiker, Künstler, Schriftsteller niedergelassen: "Im September 1968 war Woodstock so etwas wie ein Zufluchtsort, ein 'shelter from the storm', wie Dylan später sang." Vietnamkrieg, Krawalle, Rassenunruhen, politische Morde (King, Kennedy) ... aber in Woodstock ging es friedlich zu. Joints kreisten, es wurde Musik gemacht - für Lang der richtige Ort, um ein Aufnahmestudio aufzumachen.
Was schiefgehen kann, geht schief
So fing es an mit Woodstock, daraus wurde kurze Zeit später die Idee des Festivals - aber ehe es stattfinden konnte, waren so unglaublich viele Hürden zu überwinden, Rückschläge zu verkraften, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, dass es an ein Wunder grenzt, dass Woodstock überhaupt stattgefunden hat. Murphy's Law (Murphys Gesetz) fand hier volle Anwendung: Alles, was schiefgehen kann, geht schief.
Wer nicht alles gegen das Festival war: besorgte Anwohner, Hippie-Hasser, die Behörden ... Sie alle machten den Veranstaltern die Hölle heiß. Ebenso Bill Graham, Konzertveranstalter und Bandmanager, Betreiber des Musiktheaters Fillmore East in New York City - er war mächtig sauer wegen der seiner Meinung nach konkurrierenden Veranstaltung in Woodstock und drohte: "Ich werde euch eure ganzen Acts ausspannen! IHR KÖNNT EINPACKEN!" Sie konnten sich noch einigen - aber auch aus unerwarteter Richtung kam Widerstand: aus den eigenen Reihen. Hippies und Politaktivisten um Abbie Hoffman warfen den Organisatoren reines Profitstreben vor - sie würden mit Woodstock Geschäfte machen wollen und so die Idee der Bewegung verraten; der Eintritt müsste kostenlos sein. (Daraufhin wurde unter anderem eine "Free Stage" eingerichtet, wo man auch ohne Konzertkarte hinkommen sollte - dass das mit dem Einlass später so gar nicht hinhaute, wusste da noch niemand ...)
Kosten, Kosten, Kosten

Die Blumenkinder waren nicht überall willkommen - in Bethel bei Max Yasgur konnten sie schließlich feiern.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Der geforderte Gratis-Eintritt war natürlich illusorisch - viele der verpflichteten Musiker und Bands verlangten gigantische Gagen, hinzu kamen sich immer höher auftürmende Berge an Kosten: für Ärzte, medizinisches Personal, psychologische Betreuung (vor allem der Drogenopfer), für Anwälte, für Sicherheitspersonal, für Miete (sowohl des Areals selbst als auch für Büros und Unterkünfte), für die Aufwandsentschädigung betroffener Farmer, für Verpflegung, für Techniker, Toiletten, Müllentsorgung, Kabel, Bühnenbau, Zäune, Flugshuttle ... und viele, unglaublich viele Mitarbeiter.
Dann: das Wetter. Dauerregen verwandelt alles in Schlamm, Sturm bringt Boxentürme und andere Aufbauten zum Schwanken, die Bühne steht unter Wasser, die Musiker bekommen Stromstöße ... die Musiker, die überhaupt angekommen sind. Denn schon Tage vor Beginn des Festivals hatte sich eine gigantische Lawine in Bewegung gesetzt, Hunderttausende Menschen aus allen Landesteilen strömten zum kleinen Ort Bethel im Bundesstaat New York, verstopften die Straßen, nichts ging mehr - irgendwann nur noch zu Fuß oder per Flug.

Schon Tage vor Beginn des Festivals strömten die Massen nach Bethel, die Straßen waren bald komplett dicht.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Und viele kamen schon Tage bevor es losgehen sollte am 15. August - was gleich zum nächsten Problem führte: Die Umzäunung des Geländes und die Kassenhäuschen waren noch nicht komplett aufgebaut. Viele hatten sich zwar schon im Vorverkauf Tickets besorgt, aber viele eben auch noch nicht. Und nun waren sie da, an Kartenverkauf und -kontrolle war nicht mehr zu denken ... Das Verhältnis zwischen Kosten und Einnahmen lief völlig aus dem Ruder; es war klar: Das Ding endet mit einem Schuldenberg.
Das Wunder kommt zustande
Aber Michael Lang und seine Mitstreiter gaben nie auf - trotz aller Rückschläge, trotz Schlafmangels und Extremstress über Tage, eigentlich sogar Wochen. Das ging nicht ohne unendlich viele Helfer und Unterstützer - angefangen von ihrem "Retter" Max Yasgur, der ihnen sein Land für die Veranstaltung verpachtete, nachdem vorher niemand die Hippiemassen bei sich feiern lassen wollte. Über Anwohner, die Trinkwasser und Lebensmittel spendeten (davon gab es - natürlich - nicht genug, vieles war auch im Regen verschimmelt). Bis hin zu Menschen, die freiwillig und unentgeltlich für das Woodstock-Festival arbeiteten, sei es im Sani-Zelt, bei der Essensausgabe oder wo immer jemand gebraucht wurde.

Die schwangere Joan Baez wartete geduldig auf ihren Auftritt - sie eröffnete kurz nach Mitternacht ihr Set mit dem Gospel "Oh happy day".
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Und so kam das Wunder zustande - das dreitägige "Woodstock Music and Art Festival" begann, mit dem Auftritt von Richie Havens. Der aber erst mühsam überredet werden muss, denn er war als Fünfter eingeplant, er will nicht eröffnen. Aber er muss. Und so tritt er am 15. August um 17.07 Uhr auf die Bühne und spielt und spielt - er darf nicht aufhören, denn der nächste Act ist noch nicht bereit. Als ihm nichts mehr einfällt, muss er improvisieren; so kommt es schließlich zum legendären "Freedom", seiner Spontan-Version des Spirituals "Motherless Child". Auch die sanfte Joan Baez zeigt sich als gute Seele - zu der Zeit im sechsten Monat schwanger, wartet sie dennoch geduldig stundenlang im Regen auf ihren Auftritt, bis kurz nach Mitternacht des ersten Festivaltags endlich die Bühne für sie frei ist. Sie setzt gegen zwei Uhr den Schlusspunkt mit "We shall overcome".

Roger Daltrey mit The Who - die Band spielte zweieinhalb Stunden grandios, aber Gitarrist Pete Townshend trat einen Kameramann und haute Politaktivist Abbie Hoffman die Gitarre über den Kopf, weil er ihren Auftritt mit einer Ansprache störte.
(Foto: imago/Cinema Publishers Collection)
The Who hingegen verhielten sich wie Arschlöcher und drohten ebenso wie Grateful Dead damit, nicht aufzutreten, wenn nicht sofort der Rest der Gage käme; Janis Joplin verteilte Schampus an alle und ging vielen auf die Nerven - dafür war ihr Auftritt grandios, sie versetzte "die Zuschauer in Ekstase, sie flehten sie geradezu an, nicht aufzuhören". Aber was nach Janis folgte, war der Woodstock-Höhepunkt für viele: der Auftritt von Sly & the Family Stone. Die Musikjournalistin Ellen Sander beschreibt ihn in Langs Buch sehr plastisch: "'Higher!' rief Sly der Menge zu. 'Higher!' echote es aus einer halben Million Kehlen. ... Teils freudig, teils hoffnungsvoll, teils verzweifelt streckten sie Arme, Hände und Finger aus, machten Peace-Zeichen und ließen ihre Stimmen in der Nacht erklingen, auf den Lippen das schmerzliche Flehen der Sixtiesgeneration: 'Higher, higher!"
Woodstock als Wendepunkt
In dem fast 400 Seiten starken Buch (davon 16 Seiten Fotos) kommen viele, viele Woodstock-Beteiligte zu Wort - Mitarbeiter, Musiker, Journalisten, Festivalbesucher. Es fällt sehr oft das Wort "Riesenchaos" oder "Katastrophe", aber auch von Magie ist die Rede und vom Spirit, vom Geist der Zeit, der dann doch alles trug.
Oder wie Grace Slick von Jefferson Airplane konstatiert, die als Letzte an Tag zwei, also am Sonntag um 7 Uhr morgens, auftraten: "Wir waren die ganze Nacht wach gewesen und ich sang die verdammten Songs mit geschlossenen Augen, quasi im Halbschlaf. Vielleicht hätten wir besser gespielt, wenn wir wacher gewesen wären. Aber der Rock'n'Roll ist ja nicht zuletzt so faszinierend, weil man gelegentlich ziemlich abgefuckt ist." Am besten fasst jedoch der letzte Song des damals noch unbekannten Joe Cocker das ganze Woodstock-Wunder zusammen - seine Version des Beatles-Hits "With a little help from my friends".
Michael Lang zieht im Epilog ein Fazit aus Woodstock, das weit in die folgende Geschichte reicht: "Viele der Künstler, die 1969 dabei waren, betrachten Woodstock als eine Art Wendepunkt für uns alle. Carlos Santana sagte: 'Woodstock war ... ein kollektives Abenteuer, das etwas zum Ausdruck brachte, dem wir auch heute noch begegnen: Als die Berliner Mauer fiel, war ein Stück Woodstock dabei. Als Mandela freigelassen wurde, war ein Stück Woodstock dabei. ... Auch heute noch feiern wir jeden Tag ein Stück Woodstock."
Die Tatsache, dass die Neuauflage des Festivals zum 50. Jahrestag geplatzt ist, relativiert diese euphorische Betrachtung natürlich etwas. Aber das Jubiläum soll dennoch gefeiert werden, mit Konzerten in Bethel, wo heute ein Museum mit einer Bühne steht. Und auch hier will Lang mitmachen - natürlich, da ist er unermüdlich: "Meine Gedanken richten sich nach Bethel und auf die dortige Feier des 50. Jahrestages, um unsere Werte des Mitgefühls, der Menschenwürde und der Schönheit unserer Unterschiede, die von Woodstock gefeiert wurden, neu zu betonen."
Anmerkung: "Woodstock - Die wahre Geschichte" wurde bereits 2009 geschrieben, zum 40. Jahrestag, und nun neu aufgelegt.
Quelle: ntv.de