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"Sprechen lernen" Hilary Mantel blickt auf eine düstere Kindheit

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Hilary Mantel beschrieb ihre Kindheit als "seltsam" und sich selbst als schweigsames Kind.

Hilary Mantel beschrieb ihre Kindheit als "seltsam" und sich selbst als schweigsames Kind.

(Foto: picture alliance / Heritage-Images)

Eine Kindheit im England der 1950er- und 1960er-Jahre in "von rauen Winden und derben Klatschmäulern geplagten" Orten. Das ist das Material, das Hilary Mantel zum Schreiben bringt. Tatsächlich war alles noch viel schlimmer, als sie dachte.

Hilary Mantels Leserinnen und Leser brauchten bisher meist einen langen Atem. Zwischen 500 und 800 Seiten sind die bekannten Romane der mehrfachen Booker-Preisträgerin dick. Doch sie konnte auch anders. Unter dem Titel "Sprechen lernen" liegen nun, beinahe ein Jahr nach ihrem Tod, sieben Kurzgeschichten in deutscher Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence vor.

Auch diese Texte speisen sich, wie so vieles in Mantels Schreiben, aus ihrer Kindheit. Doch sie selbst nennt die Erzählungen nicht autobiografisch, sondern "autoskopisch". "Aus einer entfernten, erhöhten Perspektive blickt mein schreibendes Ich auf einen auf seine bloße Hülle reduzierten Körper, der darauf wartet, mit Sätzen gefüllt zu werden", schreibt sie im Vorwort.

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Schon in "Von Geist und Geistern" ist Mantels schwierige Kindheit in komplizierten Familienverhältnissen ausgiebig Thema. In den Kurzgeschichten wird die junge Hilary zu Töchtern und Söhnen mit anderen Namen, die gleichwohl erleben, was ihr selbst im England der 1950er- und 1960er-Jahre widerfahren ist, in "von rauen Winden und derben Klatschmäulern geplagten" Orten. Mantel öffnet die Tür in ihr Elternhaus, in das eines Tages der Liebhaber der Mutter mit einzog, was dazu führte, dass ihr Vater zunächst in einem Zimmer im hinteren Teil des Hauses und schließlich ganz verschwand.

Es gibt kein Entrinnen

Für das Kind gibt es keine Erklärung dieser sich verändernden Lebensumstände. Geschwister werden geboren, die familiären Verhältnisse bleiben undurchsichtig und werden von Nachbarn misstrauisch beäugt, obwohl schon innerhalb der Familie nicht darüber gesprochen werden darf. Mit den kleinen Schritten des sozialen Aufstiegs sind Umzüge verbunden und auch immer die Hoffnung, den Klatsch und die Missgunst nun hinter sich zu lassen.

In "Hoch in den dritten Stock" nimmt dieses seltsam düster anmutende Leben eine weitere Wendung. Kurz nachdem ein Kugelblitz in der Straße für Aufregung sorgt, antwortet die Mutter, die jahrelang ausschließlich Hausfrau und Mutter war, auf die Stellenanzeige eines Kaufhauses in Manchester. Die Mutter, die schon in den anderen Geschichten auf dem schmalen Grat zwischen faszinierend und furchterregend wandelt, erweist sich trotz ihrer kaum vorhandenen Schulbildung als überaus talentiert für den Job. Sie legt ihre "düstere Uniform" ab und entwickelt eine "huldvolle, um nicht zu sagen herablassende Art", sich um die Kundinnen und Kunden zu kümmern.

Die Tochter verfolgt als Aushilfe gebannt, wie die Mutter sich von den Dramen der Frauen in ihrer Abteilung zu nähren scheint. "Die Mädchen wurden geschieden, litten unter Vitaminmangel, prämenstrueller Anspannung, hatten üble Schulden und Kinder mit Epilepsie und Missbildungen. Ihren Häusern drohten Untergang und Zusammenbruch, Hochwasser und Schimmel, und sie schienen auf veraltete Krankheiten wie Pocken und Scrapie spezialisiert." Den wenigen Kundinnen und Kunden steht eine Übermacht an Kleidungsstücken gegenüber, die im Lauf der Jahre ein immer eigenständigeres Leben zu entwickeln schienen. Die Mutter steigt weiter auf, wird immer blonder, verantwortet noch mehr Mädchen und zieht "immer noch größere Feindseligkeit und Bosheit auf sich". Die Tochter verfolgt das, ebenso wie die Schließung und den Verfall des Kaufhauses und begreift schon im Abstand von fünf Jahren, "dass in jenen Jahren alles viel schlimmer gewesen war, als ich gedacht hatte".

Fantasie als Rettung

Wie schwierig es ist, die unsichtbaren sozialen Grenzen zu überschreiten, beschreibt Mantel in der titelgebenden Erzählung "Sprechen lernen". Nach dem Umzug sind nicht nur die Häuser völlig anders, die Vorgärten und die Familienautos. Offenbar hat die elfjährige Erzählerin auch nicht sprechen gelernt, jedenfalls nicht so, dass es jetzt nicht Gehässigkeit und Gelächter auslösen würde.

Ziel der Unterrichtsstunden in Miss Websters Strickladen ist eine "britische Standardaussprache (….) mit einem klaren südlichen Tonfall". Dafür müssen Reime gesprochen werden und in der Prüfung trägt die Erzählerin die Schuhe ihrer Lehrerin, weil die eigenen vermutlich der Beweis wären, dass die "oy"s und "a"s niemals richtig sein werden.

Drei Jahre lang besucht sie diese Sprechstunden, liest Shakespeare vor und ahmt dabei die älteren Schülerinnen nach. Schüler gibt es nicht. "Konnten die nicht richtig sprechen, hatten sie, nehme ich an, andere Möglichkeiten, um im Leben weiterzukommen." Das alles ist so eintönig und sinnlos, dass sich das Mädchen in andere Realitäten versetzt, sie ist dann eine Spionin oder Schwarzmarkthändlerin. Später sieht sie diese Jahre als verloren an und wünscht sich, sie hätte eine Jugend gehabt, die sie hätte vergeuden können.

Der Hass darauf, jung zu sein

Überhaupt ist es schrecklich, in diesem Leben jung zu sein. "Es sollte Hilfsangebote, schrittweise Programme für junge Leute geben, die es hassen, jung zu sein." In Mantels Kindheit und Jugend war es offenbar immer dunkel und kalt, Erwachsene waren unberechenbare, machtbesessene Personen, die, von ihren eigenen Dämonen angetrieben, kaum mehr als das Überleben ihrer Kinder sicherstellen konnten, und manchmal nicht einmal das.

Am Ende versinkt all das, ebenso wie das Dorf Derwent, im Wasser. Die Erzählerin lässt alles hinter sich und wendet sich wärmeren Gegenden der Welt zu. Es ist nicht so, dass sie ihre Leserinnen und Leser im Vorwort nicht gewarnt hätte: "In diesen Geschichten geht es um Kindheit und Jugend. Sie wurden über vielen Jahre ausgearbeitet. (…) Alle diese Erzählungen sind aus Fragen über meine frühen Jahre entstanden, wobei ich nicht sagen kann, dass ich durch das Übertragen meines Lebens ins Fiktionale Rätsel gelöst hätte - aber zumindest habe ich einzelne Teile hin- und hergeschoben."

Wer bisher nichts von Mantel gelesen hat, kann mit "Sprechen lernen" perfekt einsteigen und dann entscheiden, ob er für diese Art von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bereit ist. An dieser Kindheit und Jugend ist nichts zauberhaft oder verlockend, dafür rußgeschwärzt, bizarr und verkümmert. Und irgendwo in den Zwischenräumen ist Hilary Mantels Schreiben entstanden, als Antwort auf einen "diffusen Schrecken", der eine "würgende Hand" um ihr Leben geschlossen hatte.

Quelle: ntv.de

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