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Buch eines ÜberlebendenWie fasst man den Amoklauf von Erfurt in Worte?

28.12.2025, 13:13 Uhr DSC-3851-1Von Marc Dimpfel
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"Hilfe" schrieb eine Schülerin am Tag des Amoklaufs auf ein Blatt Papier. (Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Kaleb Erdmann hat als Elfjähriger den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium überlebt. In "Die Ausweichschule" schreibt er über die Unmöglichkeit, die richtigen Worte für das Grauen zu finden. Und er findet sie doch.

Es kommt der Zeitpunkt, da legt man "Die Ausweichschule" beiseite, greift stattdessen zum Smartphone, googelt den Namen Robert Steinhäuser starrt auf das Bild, das man in den hinteren Gedächtnisecken verstaut hatte. Man erinnert sich an das rundliche, der Kamera zugewandte Gesicht mit den kurzgeschorenen Haaren und der Akne um die Kinnpartie. Und man kann nicht anders, als in dem durchdringenden Blick nach Anhaltspunkten zu suchen, wie dieser 19-Jährige am 26. April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen erschießen konnte.

Dann fühlt man sich ertappt, weil jeder vermeintliche Rückschluss natürlich der eigenen Vorstellungskraft entspringt. Weil dahinter derselbe voyeuristische Antrieb steckt, mit dem schon die Massenmedien an den Tagen danach aus jedem Urlaubsfoto, jedem Lebensdetail des Amokläufers ein Motiv abzuleiten versuchten, einen Grund für das Töten.

Kaleb Erdmann weiß um diese Sogwirkung der Gewalt, er will sich ihr entledigen und ist zugleich getrieben davon, aus der Gewalttat und ihren Konsequenzen Literatur zu machen. Aus diesem Widerspruch heraus ist die "Ausweichschule" entstanden, ein autofiktionaler Roman über das Schreiben über Erfurt.

20 Minuten Amok

Erdmann und der Ich-Erzähler sind nicht identisch, aber sie teilen das Schicksal, in die fünfte Klasse des Gutenberg-Gymnasiums gegangen zu sein, als der maskierte und schwer bewaffnete Steinhäuser in ihr Klassenzimmer lugte, ohne einen Schuss abzugeben. Die Fünftklässler dachten, sie hätten einen Ninja gesehen. 20 Minuten, 70 Schüsse und 16 Morde später tötete sich Steinhäuser, der ein halbes Jahr zuvor der Schule verwiesen worden war, selbst.

Mehr als zwei Jahrzehnte danach erzählt der Autor von dem Massaker, dem anschließenden Massentrauma, dem Umzug auf die provisorisch eingerichtete Ausweichschule, aber er erzählt nicht bloß nach. Vor allem dokumentiert das Buch das Scheitern des mittlerweile Mittdreißigers an seinem unmöglichen Buchprojekt.

Nach Erfurt kehrt der Erzähler dabei zunächst nur gedanklich zurück. In Form des von einer Aufarbeitungskommission verfassten Gasser-Berichts oder in Form der eigenen Erinnerungen, denen, unscharf von Trauma und Zeit, nicht immer Glauben geschenkt werden kann.

Doch er hadert nicht nur mit der Umsetzung, sondern auch mit der Rechtmäßigkeit. Weil er zwar Steinhäuser gesehen hat, aber keine Leichen, weil er eine Lehrerin verloren hat, aber keine Freunde, weil er überlebt hat, aber nur wenige Jahre nach dem Amoklauf wegzog. Darf er die Wunden aufreißen - und zu welchem Zweck sollte er das?

Traurig, schön und lustig

Es ist genau diese Aufrichtigkeit, der Nicht-Anspruch, jeden Zweifel auszuräumen, der die "Ausweichschule" so großartig macht. Ein Buch, das nicht geschrieben werden kann und doch geschrieben werden musste, in einer wunderschön poetischen Sprache und mit unerwartet humorvollen Alltagsszenen.

In diesen korrespondiert der Erzähler mit einem Dramatiker, der ein Stück über Amoktaten schreibt. Er reist nach Bamberg und schaut sich das Stück an, hat eine Panikattacke, betrinkt sich und fährt am nächsten Tag spontan nach Erfurt, zur Ausweichschule und zum Gutenberg-Gymnasium.

Und er verbringt viel Zeit mit seiner Freundin, sie fahren in den Urlaub, besuchen Kunstausstellungen und Bars. Weil es ein Leben nach Erfurt gibt, obwohl der Kopf ständig abdriftet zum 26. April 2002, zum sinnlosen Tod von elf Lehrkräften, einer Referendarin, einer Sekretärin, zwei Schülern und einem Polizisten. Zurück zu Steinhäuser. So wird letztlich auch die Befreiung, in der sich der Erzähler nach seinem eingestandenen Scheitern wähnt, eingeholt von der Unmöglichkeit.

Quelle: ntv.de

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