Hörbücher

Dörte Hansens "Zur See" Selbst eine Insel ist keine Insel

Jeden Morgen geht die Sonne über einer veränderten Insel auf.

Jeden Morgen geht die Sonne über einer veränderten Insel auf.

(Foto: IMAGO/blickwinkel)

Sie sind Nachfahren von Grönlandfahrern und Inselmenschen. Ihre Häuser stehen seit Jahrhunderten, ihr Handwerk ernährte Generationen. Doch in Zeiten von Klimawandel, Tourismus und EU-Verordnungen ist es schwierig, nicht zum Kleindarsteller einer untergegangenen Welt zu werden.

Über ihre ersten beiden Romane "Altes Land" und "Mittagsstunde" sagte Dörte Hansen, es gehe darin um "Heimat und Zugehörigkeit". Das Gleiche lässt sich auch über ihr neuestes Buch "Zur See" sagen. Denn wieder einmal ist es der Bestsellerautorin gelungen, den Weiten Norddeutschlands ein weiteres Sujet abzugewinnen.

Jens, Hanne, Ryckmer, Eske und Henrik Sander sind die Nachkommen von Grönlandfahrern, waschechte Inselmenschen, vielleicht auf Föhr, Sylt oder Fanø, da legt sich Hansen nicht fest. Nur das Meer ist eindeutig die Nordsee in ihrer ebenso unvergleichlichen Schönheit wie rauen Unbarmherzigkeit. Von Familienidylle kann allerdings keine Rede sein auf dieser Insel.

"Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut." (Aus "Zur See")

Seltsam und dysfunktional

Jens, der frühere Kapitän, hat sich in die Einsamkeit der Vogelbeobachtung zurückgezogen und seine Frau Hanne und das jahrhundertealte Kapitänshaus mit dem Walknochenzaun den Sommergästen überlassen. Hanne gewöhnte sich das Warten schon vor vielen Jahren ab, das Warten auf Männer, die nach Hause kommen wie das auf zahlende Gäste, dankbare Kinder oder die nächste Sturmflut.

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Die Kinder sind längst erwachsen und führen ihre eigenen Leben. Ryckmer, der älteste, hat ein Alkoholproblem. Er säuft, auch, um zu vergessen, wie er auf See in einem Sturm die Fassung verloren hat. Hanne teilt ihm das Bier zu und kratzt ihn besoffen von der Straße, doch an seinen freien Tagen lässt sie ihn saufen und schwadronieren. Von Kaventsmännern, Monsterwellen und der weißen Wand, von der nur er weiß, dass er sie überlebt, sie ihn aber trotzdem besiegt hat.

Eske, die Mittlere, trägt der Mutter die langen Sommer nach, in denen diese "gästisch" sprach, Badegäste ihr Kinderzimmer bewohnten und sie mit den Brüdern auf dem Dachboden schlief. Nichts kann sie versöhnen, selbst wenn sie mit den Menschen, die sie im Altersheim betreut und beim Sterben begleitet, voller Nachsicht ist. Und Henrik, der Jüngste, lebt in seiner ganz eigenen Welt mit den Strandfunden, die in seinen Händen Skulpturen werden. In dieser Welt halten es Frauen nicht lange aus, aber das scheint ihm nichts auszumachen, solange er nur den Strand hat und das, was die See dorthin trägt.

"Nichts Vertikales hat Bestand in dieser Landschaft, nicht die Kirchen, nicht die Sünden aus Beton, nicht einmal die Bäume. Es gibt hier nichts Beständiges. Das Fließen, Strömen und Verlanden, Stürmen und Auseinanderreißen hört nicht auf. Land gewonnen, Land zerronnen. Alles hier will Horizont sein." (Aus "Zur See")

Gnadenlose Veränderung

Von all dem sehen die EU-Beamten nichts, die Fangquoten festlegen, von denen die Fischer nicht mehr leben können und die Touristen, die längst keine Badegäste mehr sind, die sich für ein paar Sommerwochen zur Familie zugehörig fühlen dürfen. Für diese "Kurzurlauber und Kapitänshauskäufer" sind die Inselmenschen wie Kleindarsteller in einer Inszenierung. Und auch wenn man kaum ein deutlicheres Bild für Veränderung finden kann, als Ebbe und Flut, den abgetragenen Sand und die verwitternden Boote, ist Veränderung etwas, das auf den Inseln nicht besonders gemocht wird.

Hansen erwähnt sie in Nebensätzen, die Hausverkäufe, die Bauvorhaben, die neuen Geschäftsmodelle, die jahrhundertealte Arbeiten ablösen, die Trennungen und Todesfälle. In gelegentlichen Rückblenden werden Zeiten lebendig, die längst vorüber sind, während weitere Zeiten vergehen.

"Die Gesetze der Gekränkten gelten wohl auf allen Inseln: nie freundlich zu Touristen sein. Nicht lächeln. Nicht mit ihnen plaudern. Ihr Fragen höchstens einsilbig beantworten. Weil man die Hand, die einen füttert, nicht noch küssen muss." (Aus "Zur See")

Sieben Stunden bis zum Weltuntergang

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Nina Hoss war die erste Wahl der Autorin, um das Hörbuch einzusprechen. Die Vorgängertitel hatte noch Hannelore Hoger gelesen. Und obwohl Hoss nichts Norddeutsches in ihrer Aussprache hat, nicht einmal einen Anflug von Plattdeutsch in ihren Sätzen, kein besonders langes E, kein gerolltes R, gelingt es ihr, Hansens Sätze norddeutsch klingen zu lassen. Da scheint eine Kälte in ihren Sätzen, ein Klirren, als ob Eisschollen aneinander stoßen. Lakonisch, ohne besondere Aufregung reiht Hoss Satz an Satz aneinander, bis zum unerwartet dramatischen Ende der sieben Stunden oder 250 Seiten.

Hansen schreibt präzise bis in die Seelenwinkel ihrer Nebenfiguren. Und trotzdem oder vielleicht deshalb könnte es sich mit ihrem Buch genauso verhalten wie mit den Touristen, die die alten Kapitänshäuser fotografieren und Fischerhemden und Kandis in ihren Leinenbeutel verstauen: Sie kaufen das Buch in der Inselbuchhandlung, lesen es an einem diesigen Tag, lassen es danach in ihrer Ferienwohnung zurück und bilden sich dann ein, sie hätten einen völlig authentischen Blick auf die Insel bekommen. Es ist ja nicht ihre Heimat und nicht ihre Zugehörigkeit.

Quelle: ntv.de

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