Panorama

Ermittlungen ohne Tatverdächtige Am Ende ist in Genua ein Toter schuld?

In der Morandi-Brücke klafft eine gewaltige Lücke.

In der Morandi-Brücke klafft eine gewaltige Lücke.

(Foto: Andrea Affaticati)

Der Bürgermeister von Genua verspricht nach dem Brückeneinsturz schnelles Handeln bei der Zuweisung der Wohnungen und auch finanzielle Hilfe. Doch wer wird dafür bezahlen? Bis jetzt ist kein einziger Beschuldigter benannt.

"Jedes Mal, wenn ich zur Brücke hinaufblicke, habe ich das Gefühl, über uns liegt ein zu Tode verletztes Riesentier, das noch mit letzter Kraft um sein Leben kämpft. Immer wieder hört man nämlich ein verdächtiges Knirschen" sagt Herr Franco. Der gebürtige Genueser lebte bis vor zehn Tagen in einem der Häuser in der gesperrten Zone. Vor der Sperre an der eingestürzten Autobahnbrücke sitzt eine Gruppe Männer auf Küchenstühlen. Einer zeigt auf den linken Pfeiler und meint, dieser hätte sich in den Tagen nach dem Einsturz langsam gedreht. "Das ist doch Quatsch", erwidert Domenico Ursi. Er ist 83 Jahre alt, wohnt seit 1963 in der Straße und hat schon den Bau der Brücke 1967 miterlebt. "Wenn dem so wäre, dann müsste man Sprünge im Beton sehen, aber schauen Sie selber, die Oberfläche ist glatt."

Domenico Ursi hat schon gesehen, wie die Brücke gebaut wurde.

Domenico Ursi hat schon gesehen, wie die Brücke gebaut wurde.

(Foto: Andrea Affaticati)

Worüber sich aber alle einig sind, ist, dass die noch stehenden Teile jederzeit kollabieren können. "Fürs Wochenende ist Regen angesagt. Was, wenn es ein starkes Unwetter ist oder ein Wirbelwind?", fragt Pietro Lesevic. Die Brücke könnte dann, statt zu implodieren, umkippen und auch ihre Häuser in Mitleidenschaft ziehen. Zwar besteht der Gouverneur der Region Ligurien, Giovanni Toti, auf den sofortigen Abriss, "wie Sie aber sicher wissen, steht dem schnellen Handeln hierzulande ein bürokratischer Moloch im Weg", fügt Herr Franco hinzu.

Iris Bonacci, eine Grundschullehrerin Mitte 50, sitzt 300 Meter weiter am anderen Ende der Sperrzone, dort wo die Zelte des Roten Kreuzes und der Freiwilligen stehen. Auch sie musste ihre Wohnung verlassen. Heute wollte sie noch ein paar Sachen holen. Doch mittlerweile wurde die Alarmstufe erhöht und niemand darf mehr in die rote Zone. Vor drei Jahren hatte sie die Wohnung gekauft. "Vorigen Dezember bin ich endlich eingezogen und jetzt, ein halbes Jahr später, stehe ich vor dem Nichts." Im Moment lebt sie bei Freunden, im sicheren Trakt der Via Porro. Immerhin, in der Nähe ihrer Schule. Für sie ein Vorteil, aber was ist mit den Kindern? Die Gemeinde verspricht extra Schulbusse zu organisieren, um sie vom neuen Wohnsitz abzuholen und herzufahren. "Lobenswert, sicher. Nur früher erreichten die Kleinen die Schule in 10 Minuten, jetzt ist es ein Umweg von 20 Kilometern mit dem Auto." Auch mit Staus ist zu rechnen, denn was früher über die Brücke gefahren ist, muss jetzt durch die Stadt.

Die Menschen trauen den Versprechen nicht

Marco Bucci ist erst seit einem Jahr im Amt.

Marco Bucci ist erst seit einem Jahr im Amt.

(Foto: Andrea Affaticati)

Genuas Bürgermeisters Marco Bucci verspricht schnelles Handeln. Dem können die Betroffenen jedoch nicht so recht glauben. Wenngleich die Mehrheit der Meinung ist, er habe bis jetzt gute Arbeit geleistet. Auch Gianni, Mitglied der roten Gewerkschaft CGIL, gibt zu: "Das ist endlich einer der Klartext spricht. Nicht wie seine Vorgänger. Ob er aber wirklich alles hält, was er verspricht, müssen wir abwarten." Über 30 Jahre war die 600.000-Einwohner-Stadt von einem Mittelinks-Bündnis verwaltet worden. Bei den Gemeindewahlen im Juni 2017 gewann jedoch der unabhängige, vom Mitterechts-Bündnis unterstützte Bucci, ein gebürtiger Genueser, der lange Zeit als Manager auch in den USA gearbeitet hat.

Das Büro des Bürgermeisters befindet sich in einem barocken Palazzo der Altstadt, keine sechs Kilometer vom Unglücksort entfernt. Doch man hat das Gefühl, in einer anderen Stadt zu sein, überall sind Touristen unterwegs. Zwar gab es Buchungsabsagen, doch die meisten sind geblieben oder wie geplant gekommen. "Und so soll es auch weiter sein, Genua braucht sie jetzt mehr denn je, schreiben Sie das bitte", sagt Bucci, ein stämmiger 58-Jähriger mit graumeliertem Bart und einem verschmitzten Lächeln in den Augen. Er kam gerade aus einer Sitzung, war auf der Rückfahrt ins Büro, als er die Nachricht erhielt. "Ich verstand nicht sofort, dachte ein Stück Verputz sei von der Brücke geflogen. Doch der Feuerwehrmann am anderen Ende fiel mir ins Wort: 'Herr Bürgermeister die Morandi-Brücke ist kollabiert.' Ich dachte an das Attentat auf die Twin Towers, damals lebte ich in New York. Dass sie einfach eingestürzt war, hatte ich im ersten Moment gar nicht begriffen." Sofort setzte er die Notstandsmaschinerie in Bewegung. Und noch immer ist der Wettlauf gegen die Zeit im Gang. "In nur acht Tagen haben wir die ersten 19 Wohnungen zugeteilt, bis November sollen alle 500 Evakuierten wieder ein festes Zuhause haben", verspricht er.

Die Regierung hat fürs erste 33 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, weitere werden folgen. Auch die Mietkosten sollen für ein Jahr entfallen und nach dem Abriss der gefährdeten Häuser in Via Porro, will man die Eigentümer mit dem entsprechenden Marktwert entschädigen. Fragt sich nur: Wer wird dafür aufkommen? "Die Verantwortlichen dieser Tragödie natürlich", antwortet Bucci prompt. Und die wären? No Comment, lautet die Antwort. Dass er den Betreiber der Brücke Autostrade per l’Italia im Visier hat, ist jedoch nicht schwer zu erraten.

Bis jetzt noch kein Beschuldigter

"Und was geschient nach dem ersten Jahr?", fragen sich die Betroffenen und verlangen schriftliche Versicherungen. Die Skepsis ist nachvollziehbar. Vor ein paar Tagen berichtete die lokale Tageszeitung Secolo XIX, dass laut ersten Ermittlungen Autostrade im vorigen Herbst ein Dossier verfasst hatte. Daraus ging hervor, dass Pfeiler 10, also der neben den Häusern stehende, sogar in einer schlechteren Verfassung war als der kollabierte Pfeiler 9.

"Und warum wurde nichts unternommen? Weil die Politik hier wieder einmal Mist gebaut hat", bemerkt Herr Pippo, aufgebracht. "Ich bin 85 Jahre alt, kann mich also noch sehr gut an die Worte des Architekten Morandi erinnern. Dieser hatte selber auf die beschränkte Lebensdauer des damals zur Verfügung stehenden Baumaterials hingewiesen. Und jetzt lese ich, dass die Staatsanwaltschaft zwar ermittelt aber noch ohne Beschuldigte. Was ist, will man am Ende dem toten Morandi die Schuld in die Schuhe schieben? In Italien ist alles möglich." Herr Pippo ist nicht der Einzige der so denkt, denn allzu oft sind hierzulande die Verantwortlichen solcher Tragödien unbescholten davongekommen.

Quelle: ntv.de

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