"Ehrbezogene" Motive Arzu Ö. von Bruder getötet
30.04.2012, 21:39 UhrSie und die zwei Brüder haben ihrer Schwester den "Kopf waschen" wollen, sagt eine der Angeklagten im Prozess um den mutmaßlichen Mord an Arzu Ö. Die Geschwister haben gestanden, ihre Schwester getötet zu haben. Nun muss das Gericht herausfinden, ob das geplant war.
"Ich war die Schwester von neun Geschwistern, jetzt sind es leider nur noch acht." Jedes Schluchzen der Frau mit den langen braunen Haaren ist in dem vollbesetzten Gerichtssaal 165 des Detmolder Landgerichts zu hören. Mehr als eineinhalb Stunden lang schildert Sirin Ö. (27), wie sie und vier ihrer Brüder die 18-jährige Schwester im November 2011 verschleppten. Man habe ihr nur den Kopf waschen wollen, alles sollte wieder gut werden, versichert Sirin. Am Ende aber ist tot.
Sie wurde erschossen, mit zwei Kugeln in die Schläfe. Erst jetzt vor Gericht, ein halbes Jahr nach der Tat, brechen die Hauptbeschuldigten ihr Schweigen: Sirin redet, ihr 22 Jahre alter Bruder Osman nickt: Ja, er habe abgedrückt. Auch der Bruder Kirer (25) zu.
Zehn Wochen nach der Tat wurde die Leiche am Rande eines Golfplatzes in Schleswig-Holstein gefunden. Jetzt müssen sich Osman, Sirin und Kirer wegen Mordes verantworten. Die Anklage spricht von "ehrbezogenen Motiven". Zwei weitere Brüder müssen sich wegen Entführung mit Todesfolge verantworten.
Der Freund ist kein Jeside.
Rückblick: Die jesidische Familie Ö. kommt vor 25 Jahren aus dem kurdischen Teil der Türkei nach Detmold. Sirin wird noch in der Türkei geboren, die neun Geschwister in Detmold. Die Familie fasst Fuß, die Kinder gehen zur Schule, machen Ausbildungen, arbeiten. Alles scheint im Lot, die Integration gelungen.
Der Name Arzu bedeutet übersetzt "Wunsch, Wille". Mit ihren Wünschen gerät die junge Frau auf Kollisionskurs mit ihrer Familie. Arzu hat seit April 2011 einen heimlichen Freund. Der Bäckergeselle ist kein Jeside und darum für die Familie nicht akzeptabel. Er schenkt ihr rote Rosen, die Eltern werden misstrauisch.
Zeugen schildern die Nöte Arzus: Wie sie erzählt, dass sie von Brüdern verprügelt und eingesperrt wird. Arzu flieht ins Frauenhaus, schneidet sich die Haare ab und lässt ihren Namen ändern. "Sie wirkte verstört und hatte Angst", sagt ein Kripobeamter, der mit Arzu über die Misshandlung durch die Familie gesprochen hat. Den Polizisten, die die Familie wegen der "häuslichen Gewalt" aufsuchen, sagt Sirin Ö., das sei eine Familienangelegenheit.
Arzu erzählt ihrer Anwältin und ihrem Freund Alex auch, dass sie in der Türkei zwangsverheiratet oder eben von ihren Brüdern umgebracht werden solle. Die Familie verstößt die geflohene Tochter.
Die ältere Schwester Sirin arbeitet bei der Stadtverwaltung. Sie berichtet vor Gericht stockend, wie sie im Herbst 2011 nach Arzu sucht, dabei ihre Möglichkeiten beim Einwohnermeldeamt nutzt. Zuletzt ist es aber ein Zufall, der Arzu zum Verhängnis wird. In der Nacht zum 1. November entdecken Sirin und die vier mitangeklagten Brüder, dass Arzu bei ihrem Freund, dem Bäckergesellen, ist.
Der Bruder sagt aus, er habe die "Kontrolle verloren".
Sie schlagen Alex nieder und entführen die schreiende Schwester mit Gewalt, doch dann bricht Sirins Plan zusammen: Die Familie - Sirin Ö. vermeidet das Wort "Eltern" - lehnt es ab, Arzu wieder aufzunehmen, sagt die Angeklagte. Wohin jetzt? Die Brüder Kirer und Osman sowie Sirin fahren mit der schimpfenden Schwester Richtung Hamburg. Dort wohnt ein junger Onkel. Aber der ist nicht zu Hause. Es soll zu Verwandten nach Lübeck weitergehen. Alle sind müde und ratlos.
Bei einer Pause irgendwo im Wald eskaliert die Situation: Osman schildert mit tonloser Stimme, wie Arzu ihn anspuckt und auf die Eltern schimpft. Er zieht eine Waffe, befiehlt ihr, still zu sein. "Dann habe ich die Kontrolle verloren." Osman sei es auch gewesen, der besonders brutal zugeschlagen habe, wenn es mal wieder darum gegangen sei, Arzu zu disziplinieren, sagen Zeugen.
Die anderen beiden wegen der Entführung mitangeklagten Brüder Kemal und Elvis hatten die Geschwister nach dem Überfall verlassen. Vor Gericht geht es jetzt vor allem darum zu klären, ob die Tötung geplant war oder ob ein "Bekehrungsversuch" völlig aus dem Ruder gelaufen ist.
Arzus damaliger Freund Alex sagt vor Gericht, die Platzwunde am Kopf sei verheilt. "Arzus Schreie höre ich aber immer noch."
Quelle: ntv.de, dpa