"Elternfalle" statt "Tigermutter" Chinas Kinder pauken sich krank
08.02.2011, 08:09 Uhr
Keine Zeit: Chinesische Kinder müssen lernen, lernen, lernen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Leistungsdruck oder Kuschelpädagogik? Während deutsche oder amerikanische Eltern sich frei entscheiden können, haben chinesische Eltern keine Wahl. Ihre Kinder müssen gnadenlos pauken, um auf eine gute Universität zu kommen. Zum Spielen bleibt ohnehin keine Zeit.
Die strengen Erziehungsmethoden der "Tigermutter" Amy Chua haben auch unter Eltern in China heftige Debatten ausgelöst. "Warum chinesische Mütter überlegen sind", will die Autorin in ihrem Buch unter dem deutschen Titel "Mutter des Erfolgs" verraten. Mit strenger Disziplin trimmt sie ihre Töchter auf Leistung und Erfolg. Manchem im Westen gilt ihr Buch - nach dem überraschend guten Abschneiden Shanghaier Schüler bei der Pisa-Studie - sogar als weiterer Beweis, dass die Chinesen jetzt auch noch bildungsmäßig die Nase vorn haben. Doch weit gefehlt. In China wird ihr Buch eher kritisch gesehen. Die Reaktionen sind distanziert.
Chinesen können sich kaum mit der "Tigermutter" identifizieren. Amy Chua gilt ihnen nicht als "chinesisch", sondern vielmehr typisch für Emigrantenfamilien, die nur mit Bildung und harter Arbeit in einem fremden Land bestehen. Ihre Eltern sind zwar chinesischer Abstammung, kamen aber aus den Philippinen. Amy Chua selbst wurde in den USA geboren. Während die amerikanische Ausgabe unter dem Titel "Schlachtruf einer Tigermutter" mit Schriftzeichen den "chinesischen" Stil ihrer Erziehungsmethoden unterstreicht, zeigt die chinesische Übersetzung eine amerikanische Flagge als Landkarte der USA. Mit dem chinesischen Titel "Mein Mutterdasein in den USA" fehlt jeder direkte China-Bezug.
Verrückte Mütter ohne Alternative
Das brisante Buch platzt in China in eine heftige Debatte über das chinesische Bildungssystem, das von Leistungsdruck, Prüfungszwang und Auswendiglernen geprägt ist. Während mancher westliche Betrachter in dieser Paukerei die Grundlagen für den Erfolg Chinas vermutet, sehen moderne chinesische Pädagogen vielmehr eine Gefahr für die Zukunft ihres Landes. Der bekannte Professor Yang Dongping spricht in seinem Blog auch nicht von "Tigermüttern", sondern von "verrückten Müttern", denen das Bildungssystem aber keine Alternative lässt.
Wenn Kinder nur auswendig lernten, könnten sie kein kritisches Denken entwickeln, warnt der Erziehungswissenschaftler der Technischen Universität. "Allein nach guten Noten zu streben, kann zu mangelhaftem Sozialverhalten und Persönlichkeitsdefiziten führen." Viele Jugendliche seien später nicht lebenstüchtig. "Wollen wir Menschen mit Persönlichkeit oder nur Dressierte heranziehen?" fragt der Herausgeber des Jahrbuchs für Bildung - er sieht schwarz für Chinas Entwicklung, wenn sie den bisherigen Erziehungsmaximen weiter folgt.
Keine Zeit zum Spielen
Die neunjährige Leilei steckt mitten in der Bildungsmühle - nicht weil ihre Eltern es wollen, sondern weil sie keinen anderen Weg sehen, damit ihre Tochter später einen guten Beruf erlangt. "Bis halb zehn mache ich Hausaufgaben", berichtet Leilei. "Dann gehe ich schlafen." Spielt sie mit Freundinnen? "Keine Zeit." Am Wochenende? "Da lerne ich." Sonntags nimmt sie privat Englischunterricht. "Nicht streng, eher spielerisch", versichert ihre Mutter, die sich nicht wohl dabei fühlt. "Unsere eigene Schulzeit war ganz entspannt", sagt die 36-jährige Zhang Li. "Wir hatten neben dem Unterricht immer Zeit zum Spielen." Mit "Tigermutter" Amy Chua will sie nicht verglichen werden. "Was sollen wir machen? Der Wettbewerb ist heute so stark."
"Elternfalle" nennen chinesische Zeitungen das Dilemma. Der Konkurrenzkampf hat sich in den vergangenen zehn Jahren verschärft. Chinas Bildungssystem zielt ohnehin auf Elitenbildung und Auswahl, nicht auf die breite Masse. Auch schürt das zunehmend kapitalistisch getriebene China Existenzängste. Familien haben heute nur noch ein Kind, das auch für die Altersversorgung der Eltern verantwortlich ist. Der Sozialismus ist längst nicht mehr für alle da. Den Ungewissheiten, so scheint es, lässt sich nur mit einem guten Einkommen begegnen. So lasten große Erwartungen auf den Kindern.
Angstzustände statt Fantasie
Der Konkurrenzkampf beginnt schon im Kindergarten. Von Prüfung zu Prüfung müssen sich die Kinder auf gute weiterführende Schulen bis zu einer guten Universität hochhangeln - die Eltern als Lerntrainer an ihrer Seite. Kinder und Jugendliche leiden zunehmend unter Schlafmangel. Jugendpsychiater haben alle Hände voll zu tun, sollen überforderte, gestörte Kinder wieder fit machen. Angstzustände und Depressionen sind auf dem Vormarsch. "Erwünscht ist das Einüben und Erlernen stereotyper, standardisierter Antworten", sagt Professor Yang Dongping. "Als schlimme Folge wird ihnen jedes Interesse am Lernen, alle Fantasie und Kreativität genommen."
Quelle: ntv.de, Andreas Landwehr, dpa