Was Voltaire wohl sagen würde? Der Weihnachtsmarkt des Grauens
21.12.2013, 14:35 Uhr
"Wintertraum am Alexa": Sie haben ein Monster geschaffen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Klebriger Glühwein, knusprige Döner-Chips, Achterbahnfahrten und ein Ritt im loopingschlagenden "Booster-Maxxx": In Berlin treffen Weihnachtsmarkt und BumBum-Kirmes aufeinander - doch der erhoffte Rummel bleibt aus.
"Es ist ein Chaos, ein Gewühl, wo jedermann dem Vergnügen nachjagt und wo niemand es findet", schrieb Voltaire einmal über die Irrungen und Wirrungen des Lebens in einer modernen Großstadt wie Paris. Sensible Naturen sind anscheinend auch 200 Jahre nach dieser traurigen Feststellung bisweilen dermaßen davon überwältigt, dass sie ihren Gram nur noch im Alkohol zu ertränken vermögen. So wohl auch die drei jungen Männer, die sich mit dampfenden Tassen um den "Pavillon Rue de Voltaire" versammelt haben: "Ey Keule, komm ma rüber zu dem Folta-ire-Stand. Is geil hier, weil die machen rischte viel Schnaps in den Glühwein", schreit der junge Mann mit dem Fleischtunnel im Ohr voller Inbrunst in sein Telefon. Was soll er auch anderes machen, er ist schließlich auf dem Weihnachtsmarkt des Grauens gelandet.
Der "Wintertraum am Alexa" hat so ziemlich alles im Angebot, was ein Weihnachtsmarkt in Berlin eben braucht: Angenehm überteuerten (dafür aber schön klebrigen) Glühwein, knusprige Döner-Chips, das größte reisende Riesenrad der Welt, gemütliche Achterbahnfahrten und sogar einen besinnlichen Ritt im loopingschlagenden "Booster-Maxxx". Wie bitte? Das klingt eher nach BumBum-Rummel als nach vorweihnachtlicher Feststimmung? Quatsch: "Um den Weihnachtsmarktcharakter zu unterstreichen, erhalten die Fahrgeschäfte speziell zu diesem Event einen passenden Namen. So wird aus dem 'Breakdance' ein 'Weihnachts Tanz'", schreibt der Betreiber auf seiner Internetseite. Alles gut also?
Auf dem Weg zur nächsten Glühweintränke
Natürlich nicht: Die Schausteller-Branche steckt in einer tiefen Krise. In den vergangenen zwölf Jahren sei ein Viertel der klassischen Volksfeste von der Bildfläche verschwunden, klagt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Schaustellerbundes, Frank Hakelberg. "Nur" noch rund 9900 seien mittlerweile übrig - und ein Drittel des Jahresumsatzes von 3,7 Milliarden Euro wird auf den rund 1500 Weihnachtsmärkten in der Bundesrepublik erwirtschaftet. Nichts liegt also näher, als eine darbende Kirmes-Kompanie mit dem zipfelmützentragenden Goldesel der Branche zu verkuppeln und so ein "Novum unter den zugegebenermaßen zahlreichen Berliner Weihnachtsmärkten" zu schaffen, wie es auf der Internetseite des "Weihnachtstraums" heißt.
Könnte man jedenfalls meinen. Denn zumindest an diesem Spätnachmittag zur besten Afterwork-"Lass doch schnell mal nen Glühwein zwitschern"-Zeit stört die obligatorischen volltrunkenen Jugendlichen kaum ein anderer Besucher beim großzügigen Schlangenlinienlaufen; der "Gute-Laune-Ketwurst"-Verkäufer steht schlecht gelaunt an seinem Grill, auf dem gerade der letzte Ost-Hot-Dog die Farbe von Braun- zu Steinkohle wechselt; weit und breit keine Eltern, die ihre Kinder im Plastik-Winterwunderland für acht Euro auf dem Schoß des Weihnachtsmannes fotografieren wollen. Der Kopf sinkt ihm langsam auf die Brust.
Wer genau hinhört, kann in der kurzen Verschnaufpause zwischen "Sie liebt den DJ" und "Jingle Bells" sogar das leise Quietschen des verwaisten Kettenkarussells hören, das zusammen mit seiner verwitterten Kartenabreißerin zwischen all den bunt blinkenden Großfahrgeschäften steht.
Zwar zeigen die Wochenendschnappschüsse auf der Facebook-Seite des "Wintertraums", dass der Markt an Samstagen und Sonntagen bis obenhin vollgerummelt ist - aber zumindest unter der Woche scheint das Konzept schlicht nicht aufzugehen. Der gute Voltaire würde seine Meinung über die Menschen aber wohl trotzdem nicht ändern: Nur ein paar hundert Meter weiter ist die Konsumparty auf dem Konkurrenzmarkt am Alexanderplatz in vollem Gange. Dicht an dicht schieben sich die Massen über die mit hölzernen Glühweinbuden vollgestellte Betonwüste auf dem Weg zur nächsten Glühweintränke.
Wie gut, dass Voltaire auch dafür die passenden Worte gefunden hat: "Unsere Genusssucht hindert uns daran, über unsere wahren Bedürfnisse nachzudenken."
Quelle: ntv.de