Panorama

"Unendliches menschliches Leid" Jedes sechste Kind hat suchtkranke Eltern

Auch wenn synthetische Drogen wie Crystal Meth auf dem Vormarsch sind: Alkohol bleibt das größere Problem. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert

Alkohol gilt noch immer in weiten Kreisen als Kulturgut.

(Foto: dpa)

Sie sind alles andere als eine Randgruppe. Hunderttausende Kinder wachsen in Deutschland bei drogenabhängigen Eltern auf. Die Folgen sind katastrophal: Viele werden selbst abhängig, psychisch krank - und die volkswirtschaftlichen Kosten sind immens.

Katharina fing früh an. Sie hatte gerade Laufen gelernt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben sturzbetrunken war. Sie hatte ein Glas Schnaps getrunken, das auf dem Mittagstisch stand. Mit neun Jahren ging sie ab und an mit einer Freundin in den Keller, um vom selbstgebrannten Kirschschnaps der Eltern zu trinken. Von jeder Flasche einen Schluck, damit es nicht auffiel. Mit 12 Jahren fing sie an zu rauchen, mit 15 Jahren trank sie regelmäßig Alkohol. Wenige Jahre später war sie mehrfach drogenabhängig und nahm fast alles, was sie auftreiben konnte: Alkohol, Medikamente, Haschisch, Ecstasy. "Hauptsache, ich bekam einen Rausch", sagt sie heute.

Katharina, die ihren echten Namen aus Rücksicht auf ihre Eltern nicht nennen will, kommt aus einer Alkoholikerfamilie, beide Eltern trinken bis heute regelmäßig. Wie ihr geht es Millionen Deutschen. Schätzungen zufolge leben in Deutschland rund 6 Millionen Menschen, die als Kinder in suchtkranken Familien aufwuchsen. Nach Berechnungen der Katholischen Fachhochschule in Köln wachsen derzeit rund 2,6 Millionen Kinder unter 18 Jahren bei alkoholkranken Eltern auf - und damit jedes sechste Kind. In dieser Zahl sind allerdings nur die Kinder der amtlich erfassten Alkohol- und Drogenabhängigen enthalten. Henning Mielke vom Verein Nacoa, einer Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien, ist sich sicher: "Die Dunkelziffer ist vermutlich erheblich höher."

Auch Katharina wird von der amtlichen Statistik nicht erfasst. Ihre Eltern suchten nie eine Suchtberatungsstelle auf, sie fühlten sich nicht als Alkoholiker. Ihnen ging es wie so vielen: Der Alkohol schlich sich unmerklich ins Leben ein, bis er von ihm Besitz ergriff. Heute sagt Katharina ironisch, dass sie aus einer "normalen Alkoholikerfamilie" komme. Sie habe nie gedacht, dass etwas in ihrer Familie nicht stimme. Im Gegensatz zu manch anderen Alkoholikerkindern habe sie ihre Eltern nie aus der Kneipe nach Hause zerren müssen: "Prinzipiell hatten meine Eltern ihr Leben im Griff. Sie tranken meist nur zu Hause, abends und am Wochenende." Dann aber viel.

Nur einmal in den Ferien bröckelte die Fassade. Ihre Eltern radelten nach einem Abend bei Freunden sturzbetrunken zu ihrer Ferienhütte, die Mutter landete im Graben, keiner wusste mehr den Weg. "Da fühlte ich mich hochgradig verantwortlich für meine Eltern und meine kleine Schwester und hatte wahnsinnige Angst."

"Kinder werden zu Eltern ihrer Eltern"

Das Gefühl, die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen zu müssen, ist bei Kindern aus Suchtfamilien weit verbreitet. "Die Kinder werden häufig zu den Eltern ihrer Eltern", sagt Henning Mielke. Sind Vater oder Mutter betrunken und der Arbeitgeber ruft an, dann erzählen sie etwas von einer Krankheit. Oder sie versorgen ihre Eltern selbst mit dem Suchtmittel, wenn der Pegel absackt und diese aggressiv werden. "Die Kinder wissen dann schon: Jetzt fängt dieser Zustand wieder an. Und dann ziehen sie los und holen notfalls nachts um drei Uhr an der Tanke Nachschub, damit die Eltern wieder ruhig sind", so Mielke.

Viele Kinder bekommen das lange erstaunlich gut hin. Doch der Preis ist hoch. Sie werden, wie es die amerikanische Psychologin Janet G. Woititz einst ausdrückte, "um die Kindheit betrogen". Die Eltern sind so von ihrer Sucht absorbiert, dass sich alles nur um ihre Bedürfnisse dreht. Selbst wenn sie nicht gewalttätig sind und im Leben einigermaßen funktionieren, bleibt doch ein gewaltiges Defizit: "Die sind hinter einem Vorhang", sagt Mielke, "physisch anwesend, aber nicht emotional".

Das spürte auch Katharina. Zwar betont die 35-Jährige, dass sie noch Glück gehabt hätte mit ihren Eltern. Sie habe keine Gewalt erleiden müssen - im Gegensatz zu anderen Kindern von Süchtigen, die mitbekommen, wie der betrunkene Vater die Mutter schlägt und anschließend den Arzt rufen. Dennoch habe ihr irgendwann eine Freundin gesagt, dass die Atmosphäre bei ihnen zu Hause so kalt und distanziert sei. Katharina hielt das für normal.

Schizophrenien, Depressionen, chronische Krankheiten

Die Folgen der elterlichen Sucht sind für die Kinder katastrophal. Rund ein Drittel von ihnen wird später selbst süchtig, ein Drittel entwickelt psychische und soziale Störungen. Schizophrenien, Depressionen, chronische Erkrankungen. Viele machen schlechtere Schulabschlüsse und bekommen dadurch weniger qualifizierte Jobs, häufiger als anderen droht ihnen die Arbeitslosigkeit.

Volkswirtschaftlich hat dies enorme Auswirkungen, wie der Wissenschaftler Tobias Effertz von der Universität Hamburg errechnet hat. So belasten die Kinder aus Suchtfamilien, weil sie häufiger erkranken, schon im Schulalter die Krankenkassen mehr als Kinder aus normalen Familien. Besonders hoch sind die langfristigen Kosten, die sich später in chronischen Krankheiten, Berufsausfallzeiten und weniger erfolgreichen Karrieren niederschlagen. Exakte Zahlen zu diesen Kosten gibt es in Deutschland zwar nicht, allerdings beziffert Effertz die direkten und indirekten Kosten des Alkoholkonsums ohne die Belastungen der Kinder in Deutschland auf rund 40 Milliarden Euro.

Für die USA hat eine Studie zu den Folgekosten für Kinder aus Suchtfamilien einen dreistelligen Milliardenbetrag pro Jahr errechnet. Henning Mielke ist sich sicher: "Man kann davon ausgehen, dass das auch hier Milliardenkosten sind - und hinter den Kosten verbirgt sich unendliches menschliches Leid: Zerstörte Biographien, zerstörte Familien, und die Kinder sind die wesentlichen Leidtragen."

Je eher Kindern wie Katharina geholfen wird, desto geringer sind diese negativen Folgen. Der Verein Nacoa will daher besonders den Blick von Erziehern schärfen, damit diese schon früh betroffene Kinder erkennen. Leicht ist das nicht, weiß Mielke. "Die Kinder versuchen, das Familiengeheimnis Sucht zu wahren. Sie lieben ihre Eltern, und egal wie schwierig die Verhältnisse sind: Die Kinder wollen ihre Eltern schützen."

Leicht ist die Arbeit Mielkes auch deshalb nicht, weil viel zu wenig Geld in die Prävention fließt. Deutschlandweit gibt es gerade mal 200 Gruppen, die sich um die mehr als 2,6 Millionen Kinder von Suchtkranken kümmern. Dabei ist ihre Arbeit enorm wichtig. Sie bieten stabile Ansprechpartner für die Kinder und erklären diesen: Die Sucht ist eine Krankheit und keine Folge des kindlichen Verhaltens - was viele Kinder denken und was für sie, wie Mielke sagt, "eine enorme Bürde" ist.

Unermüdlich wirbt Mielke mit seinem Verein für mehr Aufklärung von Kindern und Erwachsenen. Und er wirbt dafür, das Thema Alkohol zu enttabuisieren. "Sucht ist nach wie vor ein Tabu, und insbesondere der Alkohol hat in der deutschen Gesellschaft eine immense Bedeutung, als Schmiermittel, als sogenanntes Kulturgut. Aber Tabus sind nur so lange mächtig, so lange sie verschwiegen werden." Wie groß das Tabu Alkohol in Deutschland ist, zeigt sich laut Mielke auch gut am derzeit laufenden Gesetzgebungsverfahren für das Bundespräventionsgesetz. In der Liste der Gesundheitsziele fehlt dort ein Punkt: die Reduktion des Alkoholkonsums.

Auch bei Katharina wirkte das Tabu. Erst als sie schon längst das Elternhaus verlassen hatte, dämmerte ihr, was sie für eine Kindheit hatte. Nach einer jahrelangen Drogenkarriere und einem Suizidversuch gelang ihr schließlich vor zehn Jahren die Wende: Sie unterzog sich einer Entziehungskur, fing eine Therapie an, studierte Sozialpädagogik und arbeitet mittlerweile selbst im sozialen Bereich - wie viele, die aus Suchtfamilien stammen und sehr sensibilisiert für die Stimmungen und Bedürfnisse anderer sind. Mit ihren Eltern, auf die sie zwischenzeitlich extrem wütend war, ist sie mittlerweile im Reinen: "Ich habe alles überlebt und dafür bin ich dankbar. Letztlich konnte ich für mich noch das Beste herausholen."

Doch sie weiß: Es hätte auch ganz anders kommen können.

Quelle: ntv.de

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