ntv-Moderatorin Karolina Ashion "Kenne Präsident Selenskyj seit vielen Jahren"
24.03.2022, 09:24 Uhr
Karolina Ashion ist erst seit einigen Tagen in Deutschland. Davor hat sie 20 Jahre für das ukrainische Fernsehen gearbeitet.
Dieses Interview gibt es auch auf Ukrainisch.
Täglich sendet ntv das "Ukraine Update", um Kriegsflüchtlinge in ihrer Landessprache über die aktuellen Entwicklungen in ihrer Heimat zu informieren. Moderatorin Karolina Ashion ist selbst aus Kiew geflüchtet. Im Gespräch berichtet sie, was es bedeutet, plötzlich als Flüchtling in Deutschland zu leben. Zudem gibt sie Einblicke in ihre journalistische Arbeit und verrät, welche Verbindung sie zum ukrainischen Präsidenten Selenskyj hat.
ntv.de: Frau Ashion, Sie sagen, Sie wollen mit dem "Ukraine Update" auf ntv.de und dem Youtube-Kanal von ntv eine "Stimme für die ukrainischen Geflüchteten" in Deutschland sein. Was bedeutet das konkret?
Karolina Ashion: Als Erstes möchte ich mich erneut bei Ihrem Land, vertreten durch zahlreiche Regierungsorganisationen, Freiwilligengruppen und einfache Bürger, die derzeit Ukrainer unterstützen, bedanken. Ich bin seit zehn Tagen in Deutschland - glauben Sie mir, ich weiß es sehr gut, was jeder Flüchtling fühlt. Mir fällt es immer noch schwer, zu sagen: "Ich bin ein Flüchtling aus der Ukraine". Wir, die Flüchtlinge, sind bei Ihnen "zu Besuch". Dabei ist es uns bewusst, dass keiner uns "zu Besuch" eingeladen hat. Schreckliche Ereignisse zwangen uns dazu. Für viele Menschen war es ein Schockerlebnis. Für jeden Flüchtling ist es ein unermessliches Lebensdrama, voller Herzschmerz und Seelenwunden.
Welche Fragen ergeben sich nach der Ankunft in Deutschland?
Es gibt zahlreiche Fragen. Teilweise sind sie elementar einfach: Wie komme ich zur Bushaltestelle, wo kann ich Lebensmittel kaufen, was für eine Buslinie muss ich nehmen, was kann ich machen, wenn ich mittellos bin? Und auch: Wo finde ich einen Arzt, einen Kindergarten, eine Schule? Damit Sie es besser verstehen - wir sind alle gewissermaßen traumatisiert.
Wie kann das "Ukraine Update" von ntv dabei unterstützen?
Es ist wichtig, dass einer der führenden deutschen Sender, der viel Sendezeit der Beleuchtung der ukrainischen Frage widmet, nun eine Sendung auf den Weg gebracht hat, die nicht nur in der ukrainischen Sprache ausgestrahlt wird, sondern für die Ukrainer eine Möglichkeit eröffnet, über die Situation zu Hause zu erfahren. So bekommen sie Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Wo soll für Sie der Fokus in dem 10-minütigen werktäglichen "Ukraine Update" liegen?
Das Format der Sendung sieht vor, dass die wichtigsten Ereignisse, die während des Tages stattgefunden haben, beleuchtet werden. Es ist uns bewusst, dass die Ereignisse sich schnell und unvorhersehbar ändern. Denn es ist ein Krieg. Deshalb ist die Schnelligkeit wichtig. Jede Ausgabe berichtet nicht nur darüber, was in meinem Land stattfindet. Es ist sehr wichtig, die Reaktionen der Welt und der Regierungen anderer Länder zu zeigen. Ob es Fortschritt auf dem Weg zum Frieden gibt. Davon wird das weitere Schicksal jedes ukrainischen Flüchtlings abhängen.
Versuchen Sie durch Ihre neue Arbeit eine Brücke zwischen der Ukraine und Deutschland zu schlagen?
Ja, natürlich ist es mein Wunsch, dies zu machen. Es gibt viele Überlegungen dazu, denn ich arbeitete seit mehr als 20 Jahren für das ukrainische Fernsehen. Übrigens, als ich zum zweiten Mal zu "RTL Aktuell" eingeladen wurde, habe ich in der Sendung Herrn Wolfram Kons gesehen - der Mensch, der unglaubliche Benefizveranstaltungen organisiert und veranstaltet, bei denen er Millionen Euro sammelt. Bei der letzten Veranstaltung ist ein enormer Betrag für ukrainische Flüchtlinge zusammengekommen. Dies veranschaulicht am besten, wie aktiv sich die Deutschen in der Hilfe engagieren.
Wie soll diese Verbindung zwischen der Ukraine und Deutschland erreicht werden?
Es ist so, dass ich in den 20 Jahren meiner Tätigkeit für das Fernsehen Verbindungen zu den besten ukrainischen Musikern, Künstlern, Malern, Journalisten, Schriftstellern und Sportlern aufgebaut habe. Es wäre schön, wenn es künftig möglich wäre, eine Benefizveranstaltung mit bekannten ukrainischen Künstlern zu organisieren. Gleichzeitig würde es den Deutschen ermöglichen, unsere Kultur näher kennenzulernen. Solche Dinge bedeuten geistige Bereicherung und sind außerordentlich nützlich. Jeder Krieg geht zu Ende. Kultur ist immer hilfreich dabei. Die Kunst ist immer der Sieger. Ich denke, dass neben der alltäglichen Tätigkeit auf dem Gebiet des Informierens, so ein Projekt für die Zukunft ein Muss ist.
Wie schwierig ist es momentan, glaubwürdige Informationen aus der Ukraine einzuholen und bereitzustellen?
Die ukrainische Frage ist weltweit das heißeste Thema. Schalten Sie einen beliebigen Sender ein - von morgens bis abends laufen Nachrichten über die Ukraine. Was allerdings die Faktizität betrifft, so kann es auch Fragen diesbezüglich geben. Ganz zu schweigen davon, in welchem Licht die Nachrichten über die Ukraine insbesondere bei den staatlichen Sendern der Russischen Föderation präsentiert werden. Da kommt die Frage auf, was zu glauben ist und was nicht. Sehr wichtig ist die Quelle. Was RTL und ntv betrifft, so gibt es keinerlei Zweifel bezüglich der Faktizität. Das Risiko, das Vertrauen der Zuschauer zu verlieren, wäre viel zu hoch. Ich persönlich, nachdem ich in den letzten fünf Jahren bei einem Nachrichtensender gearbeitet habe, verfüge über mein eigenes weit verzweigtes Quellennetz, dem ich zu 100 Prozent vertraue. Dennoch prüfe ich trotzdem permanent und vergleiche. Faktizität und Objektivität sind derzeit außerordentlich wichtig.
Was ist anders bei der Arbeit aus Deutschland im Vergleich zur Arbeit in der Ukraine? Berichten Sie nun anders aus der Distanz?
In meinem Beruf gibt es bestimmte Normen. Es ist nicht nur wichtig, sondern absolut erforderlich, sich daran zu halten. Dazu gehört die Neutralität, die Objektivität, die Ausgeglichenheit - das alles sind Synonyme. Sich nicht an die Normen des Journalismus zu halten, wenn man in Deutschland für Sender wie RTL und ntv arbeitet, ist einfach nicht möglich. Der Preis eines Fehlers und das Risiko wären viel zu hoch.
Wie schaffen Sie es, im Angesicht des Angriffskriegs auf Ihre Heimat, unbefangen zu berichten?
Die Regel Nummer eins ist die Unvoreingenommenheit. Selbst wenn ich für die Zuschauer etwas betonen oder besonders hervorheben wollte, ist dies absolut nicht möglich. Mein Beruf lässt es nicht zu. Insbesondere mein jetziger Arbeitgeber - der renommierte deutsche Sender RTL. Manchmal bekomme ich Tränen in den Augen von dem, was ich sehe. Aber natürlich nur im Off. Vor der Kamera jedoch gibt es nur die Informationen und das Festhalten der Tatsachen.
Welche Art von Quellen haben Sie in Ihrer Heimat und in Russland?
In der Ukraine gibt es eine große Anzahl von Medien. Man könnte darin ertrinken. Ich persönlich vertraue nicht allen. Ich weiß, "wer" oder "was" hinter jedem Medium steht, ich kenne den Preis jedes Wortes. Ich hatte das Glück, die besten ukrainischen Journalisten, die richtigen Meister ihres Handwerks kennenzulernen. Manche von ihnen waren meine Lehrer. Jetzt sind sie gewissermaßen zu meinen eigenen Quellen geworden. Mit ihren eigenen Youtube-Kanälen, Telegram-Kanälen, Internetseiten oder Twitter-Kanälen. Mit russischen Quellen ist es etwas schwieriger. Dennoch habe ich auch dort zuverlässige Informationsquellen. Es handelt sich vorwiegend um meine eigenen Kontakte.
Haben Sie Präsident Selenskyjs Handynummer?
Tatsächlich kenne ich den Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, seit vielen Jahren. Seine Telefonnummer habe ich auch. Ob sie immer noch stimmt, habe ich nie überprüft. Ich glaube, eher nicht. Vor ungefähr 12 Jahren war er mein Chef als Produzent eines führenden ukrainischen Fernsehsenders. Er hat mich zur Moderation eines Morgenmagazins - ähnlich wie "Guten Morgen Deutschland" - eingeladen. Davor sind wir uns bei der Arbeit auch mehrmals über den Weg gelaufen. Er war ja früher ein Künstler, während ich meine Laufbahn bei einem Musikfernsehsender begonnen habe und wir uns hin und wieder hinter den Kulissen begegneten. Ich habe übrigens ein paar Videos, in denen wir zusammen sind. Jung und lustig.
Sind Familie und Freunde von Ihnen noch vor Ort?
Ja, manche Freunde von mir und Kolleginnen und Kollegen sind in Kiew geblieben. Es sind überwiegend Männer. Jedoch gibt es auch Frauen mit Kindern, mit älteren, pflegebedürftigen Eltern. Männer dürfen aus dem Land nicht ausreisen. Manche haben sich bei den Streitkräften angemeldet, andere arbeiten beim Fernsehen, Radio, viele verrichten Freiwilligentätigkeiten.
Was berichten sie Ihnen?
Natürlich beginnt mein Tag immer mit Gesprächen mit den Freunden in der Ukraine. Die erste Frage ist, ob die Nacht ruhig verlaufen ist. Die Situation ist sehr instabil und jeden Tag anders. Manche Kolleginnen und Kollegen, die immer noch bei meinem Sender arbeiten, schlafen seit Wochen in Schutzbunkern auf dem Fußboden. Ich spreche lieber nicht darüber. Es ist schwer, es sich zu vergegenwärtigen und es ist schwer, es zu hören. Die gestrige Nacht war ruhig und die Freunde haben erzählt, es hat sogar ein Café ganz im Zentrum von Kiew aufgemacht. Das war die beste Nachricht in der letzten Zeit. Ruhe ist jetzt ein hohes Gut, ein unglaublicher Luxus. Ich bin mir sicher, bald wird ein normales menschliches Leben nicht nur in Kiew wieder einkehren. Die Ukrainer werden wieder nach Hause zurückkehren.
Was ist momentan das, was ukrainische Geflüchtete am meisten benötigen?
Wir, die Flüchtlinge aus der Ukraine, brauchen Unterstützung im weitesten Sinn. Von den grundlegenden materiellen Sachen bis zur moralischen und geistigen Unterstützung. Die Menschen sind überall gleich. Unterschiedlich und dennoch gleich. Wir alle sind es wert, Unterstützung und gegenseitiges Verständnis zu finden. Derjenige, der hilft, bereichert ungemein seine persönliche Welt. Derjenige, der die Unterstützung und Hilfe empfängt, ist grenzenlos dankbar. Der Stärkere hilft immer dem Schwächeren. Dies sind die Gesetze des Universums und der Natur. So ist es und so muss es sein. Wir sind alle nur Menschen.
Mit Karolina Ashion sprach David Bedürftig
Quelle: ntv.de