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Beratung bei Gewissensfrage Kriegsdienst verweigern? "Die Anfragen haben über Nacht massiv zugenommen"

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Soldatinnen und Soldaten legen das feierliche Gelöbnis ab.

Soldatinnen und Soldaten legen das feierliche Gelöbnis ab.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Debatte um einen neuen Wehrdienst verunsichert vor allem viele junge Menschen. Der Theologe Gregor Rehm berät sie. Doch auch aktive Soldatinnen und Soldaten wenden sich an ihn mit dem Gedanken, den Kriegsdienst zu verweigern. Im Gespräch mit ntv.de erklärt Rehm, wie sinnvoll das gegenwärtig ist und warum er sich nicht Gegenspieler zur Bundeswehr sieht.

ntv.de: Als Beauftragter für Friedensarbeit in der Evangelischen Kirche der Pfalz beraten Sie Menschen zur Kriegsdienstverweigerung. Wie ist die Nachfrage?

Gregor Rehm: Die Anfragen haben nach dem russischen Überfall auf die Ukraine massiv zugenommen, quasi über Nacht. Unsere Dachorganisation, die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden, hatte damit ursprünglich zur Zeit der alten Wehrpflicht begonnen. Nach der Aussetzung der Einberufungen 2011 war das dann natürlich weniger Thema. Im kleineren Rahmen existierte das Angebot aber weiter, hauptsächlich für die wenigen Soldatinnen und Soldaten, die sich mit der Frage der Verweigerung auseinandergesetzt haben. Dadurch konnten wir unsere Kompetenzen aufrechterhalten und ab 2022 schnell wieder ein Beratungsnetz aufbauen. Seitdem nehmen die Beratungsanfragen kontinuierlich zu.

Wer wendet sich an Sie?

In der ersten Anfragewelle hatten wir zunächst ganz viele ehemalige Wehrdienstleistende. Denn wer Wehrdienst geleistet hat, bleibt danach ja Reservist. Da kamen zum Beispiel Leute, die sich als 18-Jährige zum Wehrdienst entschieden hatten, vor 20 oder 30 Jahren, und die mittlerweile anders auf die Bundeswehr blicken oder schlicht verunsichert waren. Inzwischen sind es vor allem junge Leute, also diejenigen, die von den Plänen eines neuen Wehrdienstes unmittelbar betroffen wären, oder ihre Eltern und manchmal auch Großeltern.

Und was sagen Sie denen?

Wenn Eltern bei uns anrufen, dann sagen wir ihnen, dass wir keine Eltern beraten. Sie bekommen bei uns selbstverständlich alle Informationen zum Thema Wehrdienst. Aber die Beratungsgespräche führen wir nur mit den jungen Leuten selbst. Schließlich geht es dabei um eine Gewissensfrage. Natürlich spielen auch technische Fragen eine Rolle, also wie so ein Verfahren abläuft, aber das Kernelement eines Antrags zur Kriegsdienstverweigerung ist die Begründung der eigenen Gewissensentscheidung.

Lässt sich ein Gewissen denn so einfach erklären?

Das ist genau der Punkt. Die meisten Leute, die bei uns landen, kommen mit einem diffusen Bauchgefühl, das irgendwie sagt: Kriegsdienst zu leisten, das passt für mich nicht. Und zum Gewissen gehört, dass sich das zunächst als Gefühl, als innere Stimme bemerkbar macht. In einem Antrag zur Kriegsdienstverweigerung muss das jedoch glaubwürdig und nachvollziehbar beschrieben und begründet werden. Beratungsarbeit bedeutet dann, Menschen dabei zu begleiten, ihr eigenes Gewissen zur Sprache zu bringen.

Raten Sie denn zur Verweigerung?

Wir raten prinzipiell zu gar nichts. Wir wollen da sein für die Leute, die sich mit diesen schweren Fragen auseinandersetzen wollen oder müssen. Und das passiert ganz stark in einem Fragemodus. Wenn die Betroffenen sagen: "Ich kann mir nicht vorstellen, ein Gewehr in die Hand zu nehmen", dann frage ich zurück: "Warum ist das so? Welche Erfahrungen stecken dahinter? Was fühlen Sie bei dem Gedanken?" Fragen also, die auf das Innerste eines Menschen zielen. Und wenn sich diese Menschen dann entscheiden, einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen, begleiten wir sie auf diesem Weg und unterstützen bei der Antragsstellung.

Geben Sie also auch Formulierungshilfen?

Nein, ich kann in dieser Hinsicht schlichtweg keine Hilfe geben, weil es um das Offenlegen der individuellen Geschichte geht. Vor dem russischen Angriff hat das zuständige Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben pro Jahr nur wenige Hundert Anträge bearbeitet. Diese werden intensiv gelesen und geprüft. Die Praxis lässt es nicht zu, dass ein bestimmtes Phrasensystem verwendet wird, mit dem man schon durchkommt.

Warum ist die Ausformulierung des eigenen Gewissens so entscheidend? Kann ich nicht einfach sagen, ich will aus Prinzip keine Waffe in die Hand nehmen?

Die Rechtsprechung der letzten Jahre hat gezeigt, dass es eine Mitwirkungspflicht bei den Personen gibt, die so einen Antrag stellen. Diese tragen demnach die Verantwortung, glaubwürdig und nachvollziehbar deutlich zu machen, warum das mit ihrem Gewissen nicht vereinbar ist. Zugleich ist das ja auch das Einzige, was überhaupt geprüft werden kann. Das Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben, also die Behörde, die die Anträge prüft, kann niemandem in den Kopf oder den Bauch schauen. Das Gewissen entzieht sich dem Zugriff und dementsprechend kann die Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit nur über das beurteilt werden, was geschrieben wird.

Auch aktive Soldatinnen und Soldaten wenden sich an Sie. Was ist anders an der Beratung dieser Menschen?

Die meisten der aktuell dienenden Soldatinnen und Soldaten sind nicht per Wehrdienst in den Job gekommen, sondern weil sie sich irgendwann freiwillig dazu entschieden haben. Sie haben ein Gelöbnis abgelegt. Wenn diese Personen den Kriegsdienst verweigern wollen, müssen sie also einen Wandel des eigenen Gewissens beschreiben. Das ist um ein Vielfaches intensiver, als wenn jemand völlig unbefangen daherkommt und seinen Pazifismus beispielsweise aus seiner Erziehung ableitet.

Wie kommt es zu einem solchen Sinneswandel?

Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Es gibt etwa eine ganze Reihe von Soldatinnen und Soldaten, die zeitgleich ein ziviles Studium absolvieren. Und wenn die sich in philosophischen Vorlesungen mit ethischen Fragen auseinandersetzen müssen, kann das zu einem Nachdenkprozess über die eigene Rolle führen. Es kann aber auch sein, dass Personen durch konkrete Lebensereignisse aufgerüttelt werden. Wenn beispielsweise jemand im eigenen familiären Umfeld plötzlich stirbt, kann die Frage aufkommen, ob man selbst einen Menschen aus dem Leben reißen könnte.

Noch ist eine Wiedereinführung des Wehrdienstes nicht ausgemacht. Was hat es zum aktuellen Stand für einen Sinn, den Kriegsdienst zu verweigern?

Die Frage wird in den Beratungsgesprächen ganz oft gestellt. Die Wehrpflicht ist in Deutschland nicht abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt. Im Spannungs- und Verteidigungsfall würde sie unmittelbar wieder in Kraft treten. Jeder diensttaugliche Mann zwischen 18 und 60 Jahren wäre dann betroffen. Noch hat man also ausreichend Zeit für den Prozess der Kriegsdienstverweigerung. Sollte es aber so etwas wie einen Verteidigungsfall geben, verkürzen sich automatisch die Fristen. Und unsere Erfahrung in der Beratung ist, dass die wenigsten Menschen innerhalb einer sehr kurzen Zeit ihr Gewissen gut zur Sprache bringen können. Das ist die eine Seite.

Und die andere Seite?

Andererseits wird man durch einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zunächst einmal erfasst. Wenn ich dann als Verweigerer erfasst bin, könnte ich im Spannungs- und Verteidigungsfall schneller für Ersatzdienste herangezogen werden. Man begibt sich gewissermaßen freiwillig in das Erfassungssystem der Bundeswehr.

Steckt dahinter womöglich auch die Sorge, irgendwann nicht mehr verweigern zu können?

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist im Grundgesetz verankert. Das kann generell nur mit einer Zweidrittelmehrheit verändert werden. Und die ersten Paragrafen haben zudem einen sogenannten Ewigkeitswert. Da ist also nicht leicht dran zu rütteln. Einfacher ist das theoretisch beim Kriegsdienstverweigerungsgesetz, in dem auch die Verfahrenspraxis geregelt ist. Wenn es in Zukunft einen politischen Willen geben sollte, könnte es etwa strengere Verfahren oder Prüfungssysteme geben. Das kann man faktisch nicht ausschließen, ich sehe aktuell aber keine Anzeichen dafür.

Viele Experten und die Bundeswehr selbst sagen, es werden deutlich mehr Soldatinnen und Soldaten benötigt, damit Deutschland verteidigungsfähig ist. Arbeitet die Beratung zur Kriegsdienstverweigerung nicht auch ein Stück weit gegen die Sicherheit des Landes?

Mit dem Vorwurf sind Berater schon seit der Gründung der Bundeswehr in der jungen Bundesrepublik konfrontiert. In der gegenwärtigen Lage ist der mir persönlich noch nicht begegnet. Dagegen würde ich mich auch verwahren.

Warum?

Weil es mir nicht darum geht, in irgendeiner Art und Weise Wehrkraftzersetzung zu betreiben. Ich bin Theologe, ich habe eine seelsorgerliche Aufgabe. Wenn ich mit Soldatinnen und Soldaten oder jungen Menschen spreche, leiste ich Beistand. Das muss in jeder Hinsicht möglich und ergebnisoffen sein. Im Grunde genommen wäre es sogar sinnvoll, wenn jede Person, die bereit ist, einen Wehrdienst zu leisten, vorher ihr Gewissen prüft, um sich der eigenen inneren Haltung und Individualität bewusst zu werden. Denn nur so lassen sich Entscheidungen treffen, die mitunter das ganze Leben bestimmen. Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Bundeswehr gerne eine ganze Menge von Soldatinnen und Soldaten haben möchte, die alles wollen, nur um Gottes willen nicht bei der Bundeswehr sein.

Aber wenn jeder verweigern würde …

Denken Sie nur mal zurück an die Zeit des alten Wehrdienstes. War das so, dass jeder verweigert hat? Nein. Es war circa ein Drittel der Wehrpflichtigen, die einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben. Es ist ein ganz starkes Element unserer Bundeswehr, dass so etwas wie Kriegsdienstverweigerung eine Rolle spielen darf. Das macht die Soldatinnen und Soldaten überhaupt erst zu Staatsbürgern in Uniform.

Mit Gregor Rehm sprach Marc Dimpfel

Quelle: ntv.de

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