Psychiatrische Begutachtung Pistorius' Verteidigung pokerte zu hoch
14.05.2014, 15:45 Uhr
Wie alle anderen wartete auch Pistorius geduldig auf die Richterin, die dann mit einem Paukenschlag aufwartete.
(Foto: REUTERS)
Weder die Staatsanwaltschaft noch seine Verteidiger wollten das erreichen: Oscar Pistorius muss sich 30 Tage lang einer psychiatrischen Begutachtung unterziehen. Für den "Blade Runner" dürfte das reichlich ungemütlich werden.
Thokozile Matilda Masipa ist eine extrem pünktliche und sorgfältige Frau. Und sie fordert dasselbe von allen in ihrem Gerichtssaal Anwesenden. Als sie an diesem Mittwoch den 32. Verhandlungstag im Pistorius Prozess mit einer halben Stunde Verspätung begann, war schnell klar: Hier geht es um etwas. Die 66-jährige Richterin verfügte auch sodann eine Wende im Prozess. So muss sich Oscar Pistorius einer psychiatrischen Begutachtung unterziehen. 30 Tage lang. Wenn er Glück hat und bis Dienstag Platz in einer entsprechenden Institution findet, kann die Begutachtung ambulant erfolgen. Ansonsten wird der des vorsätzlichen Mordes angeklagte weltberühmte Sportstar eingewiesen.
"Das Ziel ist nicht, den Angeklagten zweifach zu bestrafen", sagt Masipa, als sie ihren Beschluss begründet, und schaut dabei demonstrativ von ihren Notizen auf und hinein den Verhandlungssaal. Oscar Pistorius steht aufrecht und begegnet Masipas Blick. Er wirkt gefasst, aber bei genauerem Hinschauen sieht man, wie Augenwinkel und Backenknochen zucken. Der sogenannte "Blade Runner" kämpft und hält seine Gefühle gerade so unter Kontrolle. Es ist die Disziplin eines echten Leistungssportlers.
Exakt diese Fähigkeit hatte ihm die von seinen Verteidigern engagierte Psychiaterin, Merryll Vorster, auch während ihrer Zeugenaussage attestiert. Selbst in bedrohlichen Situationen habe der überaus ängstliche Oscar Pistorius nicht von seiner Waffe Gebrauch gemacht. Doch, und das war die entscheidende Aussage dieser Zeugin, die vielfach vor Gericht als Expertin ausgesagt hat: Oscar Pistorius leide, auch als Folge seiner Behinderung nach einer Unterschenkelamputation im Alter von 11 Monaten, an der krankhaften generalisierten Angststörung GAS. Diese habe sein Handeln in der Tatnacht, als er durch die verschlossene Badezimmertür seines Hauses seine Freundin Reeva Steenkamp erschoss, beeinflusst.
Als die erfahrene Psychiaterin aus Johannesburg dies im Saal GD des Gauteng High Courts darlegte, war Staatsanwalt Gerrie Nel klar, dass er handeln musste. Man sah es förmlich an seinem Gesichtsausdruck.
Prozess nimmt unerwartete Wende
Für den Top-Anwalt und Pistorius' Verteidiger, Barry Roux, ist die Lage schwierig. Ihm ist durchaus zuzutrauen, das er versuchen könnte seinem Mandanten mit dem Stempel "unzurechnungsfähig" eine Haftstrafe zu ersparen. Allerdings ist dies im südafrikanischen Zusammenhang kaum vorstellbar. Es sieht eher so aus, als habe Roux zu hoch gepokert und "seine" Zeugin zu viel gesagt.
Denn so schlecht steht es um Pistorius in diesem Prozess nicht, dass Roux ihm, um ein milderes Urteil zu erzielen, 30 Tage Aufenthalt in einer südafrikanischen psychiatrischen Anstalt aufbürden würde. Das sind keine netten Orte und bestimmt keine, die die Verfassung des ohnehin labilen und an Luxus gewohnten Weltstars Pistorius stärken. Roux wollte mit Vorsters Aussage höchstwahrscheinlich lediglich die außergewöhnliche Situation seines durch seine Behinderung eingeschränkten Mandanten darlegen. Es war ein schmaler Grat. Das wird auch dem Profi Roux klar gewesen sein. Es ist schief gelaufen. Die Psychiaterin Vorster öffnete die Tür und Staatsanwalt Nel, auch gern "Rottweiler" genannt, biss zu.
Er hatte keine andere Wahl. Wenn Pistorius tatsächlich, wie Vorster es ihm im Zeugenstand attestierte, seit Jahren unter Angststörungen leidet, hat er möglicherweise in der Nacht zum 14. Februar vergangenen Jahres anders reagiert als ein normaler Mensch es getan hätte. Um der Gerechtigkeit willen muss das Gericht diese Möglichkeit in Betracht ziehen. GAS-Patienten erleben mehr Stress, sie geraten schneller in Panik, reagieren über und haben eine niedrigere Reizschwelle. Ein solcher Mensch würde schneller schießen, wenn er einen "bedrohlichen" Einbrecher in seinem Badezimmer vermutet. Aus Angst. Und dieser Mensch müsste anders beurteilt und bestraft werden als ein normaler Täter.
Absurd ist bei alledem, dass ausgerechnet Staatsanwalt Nel felsenfest davon überzeugt ist, dass Pistorius ein durch und durch handlungsfähiger, gesunder Mensch ist. Das Lamentieren über Pistorius' geistige Verfassung ist für die Staatsanwalt irrelevant, besteht sie doch weiterhin darauf, dass Reeva Steenkamp und Oscar Pistorius sich in der Nacht zum Valentinstag gestritten haben und Pistorius deshalb seine Freundin vorsätzlich durch die Badezimmertür erschoss.
Keine Fehler machen
"Das Gesetz bietet uns keine Definition des Begriffs Geisteskrankheit. Dieses Gericht ist nicht hinreichend ausgestattet, um die Aussage von Dr. Vorster zu bewerten." Deshalb, so Richterin Masipa, sei eine unabhängige psychiatrische Begutachtung unerlässlich. Die respektierte Juristin, die hier ihren letzten Fall vor der Pensionierung verhandelt, weiß, dass alle Welt auf sie schaut. Sie war lang genug selbst mutige Journalistin, die gegen das weiße Apartheidsystem für Gerechtigkeit gekämpft hat. Masipa weiß: Fehler werden in den Weltmedien bewertet und Pistorius nicht einzuweisen, wäre ein Fehler, der spätestens in einer Revision dem Ruf des südafrikanischen Rechtssystems schaden könnte. Denn würde Pistorius beweisen, dass er ob seines Zustandes vor Gericht nicht fair behandelt worden sei, dass das Gericht sich nicht die Mühe gemacht habe, die besonderen Umstände seines Geisteszustandes zu klären, könnte er frei gesprochen werden.
Der Letzte, der das will, ist Staatsanwalt Nel. So hatte er keine Wahl, als den Antrag auf eine Begutachtung zu stellen. Und Richterin Masipa auch nicht. Die Wahl hatten nur Pistorius und seine Verteidiger. Offensichtlich war das dem Weltstar nicht so klar. Nels Antrag sei "ein Witz", sagte er dem BBC-Journalisten Andrew Harding. "Es läuft gut für mich." Das war am Montag. Inzwischen sieht alles etwas anders aus. Der nächste Monat wird heftig für Pistorius und er bewertet ihn sicherlich als Strafe - auch wenn Richterin Masipa das so nicht ausgelegt haben wollte.
Quelle: ntv.de