Panorama

Überraschung im Pistorius-Prozess Richterin schließt Mord und Totschlag aus

Pistorius versuchte immer wieder die Fassung zu bewahren.

Pistorius versuchte immer wieder die Fassung zu bewahren.

(Foto: dpa)

Nach der Mittagspause wird die Verlesung des Urteils im Fall Oscar Pistorius fortgesetzt. Zuvor macht Richterin Thokozile Masipa deutlich, dass sie Pistorius weder des Mordes noch des Totschlages für schuldig hält. Doch noch ist das Urteil nicht gefallen.

Bei der Urteilsverkündung im Prozess gegen Oscar Pistorius hat Richterin Thokozile Masipa überraschend einen vorsätzlichen Mord ebenso wie Totschlag ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft habe dafür nicht genügend Beweise präsentiert, sagte Masipa im südafrikanischen Pretoria. Sie urteilt darüber, ob Pistorius seine Freundin Reeva Steenkamp absichtlich oder irrtümlich erschossen hat.

Mit ihrer Aussage machte Masipa in ihrer mehrstündigen Urteilsbegründung deutlich, dass sie Pistorius im Wesentlichen glaubt. Dieser hatte zu seiner Verteidigung gesagt, er habe sich gegen einen Einbrecher wehren müssen. Allerdings habe er die tödlichen Schüsse nach einer "bewussten Entscheidung" abgegeben. "Der Angeklagte hat die Waffe benutzen wollen", sagte Masipa. Damit ist eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung am wahrscheinlichsten, weil Pistorius den Tod des Menschen im Badezimmer nicht habe voraussehen können. Dafür drohen Pistorius mehrere Jahre Gefängnis, es könnte aber auch eine Geldstrafe oder Gemeindearbeit bedeuten.

Pistorius war im schwarzen Anzug im Gericht erschienen. Er wirkte ruhig, sah aber blass aus. Steenkamps Eltern Barry und June blickten zu ihm hinüber. Mutter June Steenkamp hatte einen Strauß roter Rosen vor sich. Auch die Familie von Pistorius kam: Vater Henke, Schwester Aimee, Bruder Carl und Onkel Arnold. Carl sitzt wegen Verletzungen, die er sich kürzlich bei einem Autounfall zugezogen hat, derzeit im Rollstuhl. Zahlreiche Journalisten versammelten sich vor und im Gericht.

Für und Wider

Zunächst fasste Masipa die weniger schweren Vorwürfe wie unrechtmäßigen Waffenbesitz und Besitz illegaler Munition zusammen. Anschließend stellte sie die Tatversionen von Anklage und Verteidigung vor. Die strittigen Punkte wie die schlampige Polizeiarbeit, die Echtheit von Fotos vom Tatort und das Fehlen von Gegenständen aus dem Haus nannte Masipa "bedeutungslos". Warum sie zu dieser Einschätzung kam, will sie später erläutern.

Masipa beschrieb dann noch einmal die Verletzungen, die Steenkamp erlitten hatte. Das Model wurde demnach von vier Schüssen getroffen, am Kopf, am rechten Oberarm, an  der rechten Hüfte und an der rechten Hand. Die Verletzungen seien so schwerwiegend gewesen, dass Steenkamp nach Meinung der Richterin nur noch Sekunden zu leben hatte und nicht mehr habe schreien können. Demnach müsse es Pistorius gewesen sein, der in jener Nacht geschrien habe, nachdem er begriff, dass es Steenkamp war, die sich im Badezimmer befand. Dies könnte entscheidend dafür sein, ob Pistorius vorsätzlich handelte.

Im weiteren Verlauf ihrer Erläuterungen betonte Masipa, dass sie sich nicht allein auf die Erinnerungen der Zeugen verlassen werde. Menschen könnten irren, deshalb werde sie sich an die technischen Beweise halten. Dazu trug sie die zeitliche Abfolge der Tatnacht vor, wie sie aus den Aufzeichnungen der verschiedenen Telefonate mit Not- und Sicherheitsdiensten hervorgeht. Damit folgte sie weitgehend der Darstellung der Verteidigung.

Nach einer kurzen Pause setzte Masipa ihre Ausführungen fort. Die Richterin hielt es für möglich, dass Steenkamp ihr Handy mit auf die Toilette nahm, um dort Licht zu machen, das im Bad defekt war. Außerdem machte sie deutlich, dass sie keine Anzeichen für einen Streit zwischen Pistorius und Steenkamp sehe.

Detaillierte Bewertung

Masipas Urteil füllt etwa 100 Seiten.

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(Foto: dpa)

Anschließend trug Masipa vor, was Pistorius über die Tatnacht ausgesagt hatte. Demnach war der Angeklagte mehrfach zwischen Toilette und Schlafzimmer hin- und hergelaufen. Die Richterin verwies jedoch auf Widersprüche in Pistorius' Aussage. Der hatte gesagt, wenn er den Menschen in der Toilette hätte töten wollen, hätte er höher geschossen. Das vertrage sich nicht mit seiner Behauptung, er habe unabsichtlich geschossen, so Masipa. "Diese Unstimmigkeit hat sich auf meine Urteilsfindung ausgewirkt." Nach dieser Feststellung wurde die Sitzung für eine halbe Stunde unterbrochen.

Im Anschluss an die Pause erinnerte Masipa an die psychologische und psychiatrische Evaluierung von Pistorius' Geisteszustand. Sie betonte, dass der Angeklagte zu jeder Zeit in der Lage gewesen sei, die Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit seines Handelns zu ermessen. Kritisch merkte sie an, dass sie es "mit einer Fülle von Verteidigungen zu tun" hatte.  Masipa sagte deutlich, Pistorius habe eine bewusste Entscheidung getroffen, auf die geschlossene Toilettentür zu feuern. Damit verwarf sie den Punkt der möglichen Unzurechnungsfähigkeit ebenso wie die eines Unfalls.

Anschließend wandte sie sich dem Argument der Notwehr zu. Die Richterin nannte es verständlich, dass ein Mensch mit der Behinderung wie der des Angeklagten sich bedrohter fühlt. Doch Pistorius hätte sich ihrer Ansicht nach auch mit dem Kricketschläger verteidigen können. Er habe jedoch eine Schusswaffe benutzen wollen. Die entscheidende Frage sei jedoch, ob Pistorius den Vorsatz hatte, den Menschen in der Toilette zu töten.

Pistorius sei in seinem Prozess ein "armseliger Zeuge" gewesen. Er habe sich widersprochen und die Fassung verloren. "Er hörte nicht zu", sei ausgewichen und habe sich mehr Sorgen um die Konsequenzen gemacht, die seine Antworten haben könnten. Das alles heiße aber nicht, dass er schuldig ist.

Es stelle sich aber die Frage, warum Pistorius mehr als einmal geschossen und nicht mit Steenkamp gesprochen habe. Allerdings gelte auch hier im Zweifel für den Angeklagten und der Anklage sei es nicht gelungen, einen geplanten Mord zweifelsfrei zu beweisen. Gleichwohl stehe fest, dass Pistorius gegen das Gesetz verstoßen habe, als er auf die Badezimmertür geschossen habe, hinter der sich in der Tatnacht seine Freundin aufhielt.

Nach der Mittagspause stellte Masipa die Frage, warum Pistorius nicht versucht habe, das Sicherheitspersonal seiner Wohnanlage oder die Polizei zu rufen. Auch habe er nicht versucht zu fliehen oder von seinem Balkon aus, um Hilfe zu rufen. Das Argument, dass er wegen der hohen Kriminalitätsrate in Südafrika überreagierte, ließ Masipa nicht zu. Auch andere Menschen schliefen nicht mit einer geladenen Waffe unter dem Kopfkissen. Sie sei nicht überzeugt, dass ein vernünftiger Mensch mit derselben Behinderung wie Pistorius in der gleichen Situation in jedem Fall vier Mal in den kleinen Toilettenraum geschossen hätte.

Tod am Valentinstag

Pistorius hatte die Schüsse in der Nacht zum Valentinstag 2013 nie bestritten. Er argumentiert aber, im Badezimmer einen Fremden vermutet und aus Panik vor dem vermeintlichen Einbrecher gehandelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm einen vorsätzlichen Mord vor.

Der Prozess hatte vor rund sechs Monaten begonnen. Der beinamputierte Pistorius hatte 2012 in London mit seinem Olympia-Start auf Prothesen weltweit Furore gemacht.

Quelle: ntv.de, sba

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